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    #Zeitgeist
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    #Zeitgeist
    Von Björn Becher

    Von der globalen Vernetzung (und den damit einhergehenden Überwachungsmöglichkeiten) bis zum privatesten zwischenmenschlichen Austausch – die Entwicklung der modernen Medien hat weitreichende Auswirkungen auf unsere Kommunikation und unser Zusammenleben. Nachdem sich Henry Alex Rubin in seinem Episodenfilm „Disconnect“, der Anfang 2014 in die deutschen Kinos kam, auf die Schattenseiten der neuen Netzwelt konzentrierte, entwirft Jason Reitman in „#Zeitgeist“ nun ein auf den ersten Blick neutraler gehaltenes Bild. In einem groben halben Dutzend miteinander verbundener Geschichten erzählt er davon, wie Teenager und ihre Eltern mit Internet, Facebook, Handy und Co. umgehen und liefert so etwas wie eine Bestandsaufnahme der verschiedenen Möglichkeiten der modernen Mediennutzung, wobei er sich vor allem auf die Extreme fokussiert. Das hat in seinem universellen Anspruch etwas von einer Versuchsanordnung – ein Eindruck, der durch den Einsatz einer klassischen Erzählerin (gesprochen von Emma Thompson) noch verstärkt wird, zumal diese dem Zuschauer hin und wieder sogar aus der Distanz Einblicke in die Gedankenwelt der Figuren gibt. Anders als der stets dramatische „Disconnect“ ist der in der Anlage so ähnliche „#Zeitgeist“ nüchtern-unterkühlt und die Figuren erscheinen meist nur als stereotype Objekte in Reitmans Reißbrettentwurf. Für Emotionen bleibt bei dieser funktionalen Erzählweise kaum Platz – außer in einer einzigen Episode, die damit klar herausragt.

    Das Sexleben von Don (Adam Sandler) und Helen (Rosemarie DeWitt) ist so gut wie nicht mehr existent. Helen fängt über eine Fremdgeh-Webseite an, neue Kontakte zu knüpfen, während sich Don bevorzugt Pornos im Internet anschaut. Dabei entdeckt er, dass sein 15 Jahre alter Sohn Chris (Travis Tope) sich auch längst zu bewegten Bildern aus dem Internet befriedigt. Das geht bei dem Teenager so weit, dass ihn jenseits von Hardcore-Pornografie nichts mehr erregt. So fällt es auch seiner hübschen Klassenkameradin Hannah (Olivia Crocicchia) schwer, ihn zu verführen. Dabei ist diese der Traum vieler Männer, denn ihre Mutter Donna (Judy Greer) verkauft aufreizende Fotos der minderjährigen Tochter online. Donnas Weg kreuzt sich bald mit Kent (Dean Norris), der alleinerziehender Vater ist, seit seine Frau kürzlich mit einem anderen durchbrannte. Er sorgt sich um seinen Sohn Tim (Ansel Elgort), der nach dem Weggang der Mutter dem Football entsagte und täglich viele Stunden mit einem Online-Rollenspiel verbringt. Einen neuen Real-Life-Kontakt findet Tim schließlich in Brandy (Kaitlyn Dever), aber der bringt seine eigenen Schwierigkeiten mit sich. Denn Brandys Mutter Patricia (Jennifer Garner) überwacht mit allerlei technischen Gerätschaften jede Tastatureingabe ihrer Tochter, liest ihre Konversationen mit und löscht unliebsame Mitteilungen kurzerhand. Die mit den anderen Kids auf dieselbe Schule gehende Allison (Elena Kampouris) nimmt derweil immer weiter ab und sucht online nach Ratschlägen, um noch dünner zu werden…

    „#Zeitgeist“ beginnt mit Aufnahmen aus dem All. Eine namenlose Off-Erzählerin (Emma Thompson) berichtet von der Voyager-Mission und über die Golden Records - Datenplatten mit für die Erde typischen Geräuschen an Bord der Raumsonde. Immer wieder sehen wir im Fortlauf des Films, wie die Sonde sich weiter von der Erde entfernt, immer wieder verweist die Erzählerin darauf. Thompson („Saving Mr. Banks“) hatte bereits in „Schräger als Fiktion“ eine Erzählerrolle inne und verriet uns, was sich im Kopf der Hauptfigur so abspielt. In Marc Forsters Romantik-Tragikomödie hatte dieser Kniff aber eine Pointe, denn Thompson spielte dort eine Autorin und Will Ferrells Figur war zugleich der Protagonist ihres Romans. So prallten schließlich die Fantasiewelt des Buches und das „reale“ Leben der Schriftsteller aufeinander. In „#Zeitgeist“ gibt es eine solche zusätzliche Ebene nicht, vielmehr bleiben die Figuren stets der gleichen künstlich wirkenden Welt verhaftet. Jason Reitman („Juno“, „Up In The Air“) arbeitet mit Stereotypen, seine vielen Figuren und ihre Beziehungen besitzen ganz klar Beispielfunktion und das geht oft auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Wenn etwa Leute, die wenige Meter voneinander entfernt in einer Kleinstadt leben, hier plötzlich scheinbar zum ersten Mal aufeinandertreffen, dann ist das Konstruierte der Erzählung überdeutlich, andererseits versucht der Regisseur gänzlich unaufgeregt das reale Leben abzubilden.

    Das zufällige oder unter fadenscheinigem Vorwand eingefädelte Zusammentreffen der Figuren, mit dem die einzelnen Handlungsstränge jeweils verbunden werden, würde weniger oder gar nicht störend ins Gewicht fallen, wenn der Regisseur diese Art der dramatischen Zuspitzung konsequent durchgezogen hätte. Aber selbst eine Episode, die in einer Fehlgeburt gipfelt, wird mit offenem Ende abgebrochen. Reitman lässt seine Geschichte unbestimmt weitertrudeln, gerade so als hätten wir hier nur einen beliebigen Ausschnitt aus dem Leben einiger beliebiger Menschen gesehen und verzichtet auf den eigentlich naheliegenden finalen Paukenschlag. Sowohl das überdeutliche Dramatisieren mit zielgerichtet herbeigeführten Konfrontationen als auch das beiläufige Erzählen sind dabei Stilmittel, die Reitman beherrscht, und für sich genommen durchaus vielversprechende Herangehensweisen für das Thema des Films. Gleichzeitig stehen sie jedoch in einem (fast) unvereinbaren Gegensatz zueinander und so gelingt es Reitman auch nicht, sie miteinander in Einklang zu bringen.

    Dieser erzählerische Widerspruch, den Reitman nicht aufzulösen vermag, wirkt sich auch auf die Figurenzeichnung und damit auf die Darsteller aus. Trotz eines großen und durchaus überzeugenden Staraufgebots, in dem selbst eine gestandene Schauspielgröße wie J.K. Simmons („Oz“) nur eine bessere Statistenrolle innehat, bleiben die Figuren seltsam undefiniert und fremd. Wenn sich die Erzählerin gleich zu Beginn mit ein paar spitzen Bemerkungen über den im Internet nach einer Wichsvorlage suchenden Don lustig macht, lachen wir gerne kurzzeitig mit. Doch das Mitgefühl, das wir später für den ziemlich einsamen Familienvater haben sollen, wird damit untergraben. Immer wieder geht Reitman mit Hilfe seiner Erzählerin zu den Figuren auf Distanz, drängt den Zuschauer förmlich in die Rolle eines distanzierten Beobachters. Dies verstärkt er, indem er jede klare Haltung gegenüber dem porträtierten Verhalten verweigert. Ob Dons Pornosucht, Helens Fremdgehen, Tims Eintauchen in Online-Welten oder Patricias manische Überwachung ihrer Tochter – selbst wenn der ein oder andere Witz gerissen wird, bleibt der Standpunkt stets neutral und beobachtend. Natürlich kann sich der Betrachter so seine eigenen Gedanken machen, wie er etwa zu Tims Flucht in Online-Rollenspiele steht und ob er die daraus resultierende Sorge seines Vater angemessen findet. Bei Reitmans weitgehend seelenloser Zustandsbeschreibung kommt die Anteilnahme aber zu kurz. Es lässt sich kaum mitfiebern, die Hoffnung auf Versöhnung und Verständigung kommt zu kurz – und somit fehlt eine Perspektive abseits der skeptischen Chronik.

    Nur eine Ausnahme gibt es: Mit starken Momenten persönlicher Kommunikation von Angesicht zu Angesicht wie einem kurzen Treffen in einer Mall sowie einer kleinen Unterhaltung in einer Bibliothek geht die Geschichte von Brandy und Tim wirklich ans Herz. Dies liegt nicht nur daran, dass Reitman hier zumindest kurzzeitig auch eine deutliche dramatische Zuspitzung zulässt und der Story sogar ein klassisches Filmende gibt (es ist auch die einzige Geschichte, bei der es zwischen Kindern und Erwachsenen eine Art Aussöhnung gibt), sondern ist auch darauf zurückzuführen, dass der „Juno“-Regisseur hier den Schauspielern den meisten Raum gibt, miteinander zu interagieren. Und den nutzen der „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“-Star Ansel Elgort und die aus dem Drama-Meisterwerk „Short Term 12“ sowie die durch ihre herausragende Nebendarstellerleistung in der Serie „Justified“ bekannte Kaitlyn Dever blendend aus. In den gemeinsamen Szenen und im Zusammenspiel mit den elterlichen Widerparts Dean Norris („Breaking Bad“) und Jennifer Garner („Elektra“) füllen sie die von Reitman und seiner Co-Autorin Erin Cressida Wilson („Chloe“) geschaffenen Figurenhüllen mit echtem Leben.

    Fazit: Jason Reitmans thematisch interessanter Episodenfilm „#Zeitgeist“ ist zu großen Teilen eine distanzierte Studie ohne dramatischen Puls und mit leblosen Figuren.

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