Mein Konto
    Midnight Special
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Midnight Special
    Von Christoph Petersen

    Als Nicolas Winding Refns „Drive“ 2011 mit Kritikerlorbeeren überhäuft in den US-amerikanischen Kinos anlief, bekam er dort vom Publikum eine der denkbar miesesten Bewertungen verpasst. Viele Besucher waren in Erwartung eines temporeichen Action-Reißers gekommen und bekamen stattdessen eine meisterhafte existenzialistische Neo-Noir-Stilübung vorgesetzt. Ganz ähnlich könnte das nun auch bei „Midnight Special“ laufen. Wer sein Ticket in Erwartung eines herkömmlichen Hollywood-Science-Fiction- oder Fantasy-Films kauft, wird kaum auf seine Kosten kommen. Denn obwohl die Story selbst durchaus an Blockbuster wie „X-Men“ oder „A World Beyond“ erinnert, ist das neue Werk von „Take Shelter“-Regisseur Jeff Nichols alles andere als glattpolierte Mainstreamware, sondern eine absolut eigenwillige, durch und durch persönliche Liebeserklärung an das Kino der 1980er Jahre, auf die man sich einlassen muss. Wer seine Augen und sein Herz allerdings für diese Vision öffnet, der lernt hier auch wieder über die kleinen Dinge zu staunen – ganz in der Tradition von Filmen wie „E.T. – Der Außerirdische“ oder „Starman“.

    Als in den 18-Uhr-Nachrichten von dem Kidnapping des Achtjährigen Alton Meyer (Jaeden Lieberher) berichtet wird, sitzt dieser gerade in einem Motelzimmer, dessen Fenster mit Pappe und Klebeband feinsäuberlich abgedeckt sind, und liest mit Taucherbrille und in aller Seelenruhe einen Superheldencomic. Seine bewaffneten Entführer Roy (Jeff-Nichols-Stammschauspieler Michael Shannon) und Lucas (Joel Edgerton) werden nervös – es ist Zeit zum Aufbruch … Unterdessen wird die Farm von Altons Ziehvater Calvin (Sam Shepard), einem texanischen Prediger und Sektenguru, vom FBI gestürmt. Die Gläubigen werden mit Bussen in eine nahegelege Highschool gefahren und dort von dem Spezialisten Sevier (perfekt besetzt als NSA-Nerd: Adam Driver) einzeln verhört. Seine wichtigste Frage: „Was wissen Sie über Alton Meyer?“

    Ich wollte eine Verfolgungsjagd drehen, einen Film über Typen, die in einem schnellen Wagen über Nebenstraßen durch den amerikanischen Süden brettern – nachts und mit ausgeschalteten Scheinwerfern.

    -    Jeff Nichols über seine Inspiration

    „Midnight Special“ beginnt als großes, den Zuschauer schon in den ersten Momenten sofort in seinen Bann ziehendes Mysterium – aber noch viel wichtiger als die Auflösung des zentralen Rätsels um Alton ist die einzigartige Stimmung, die Nichols mit Szenen wie eben jener nächtlichen Flucht heraufbeschwört. Da denkt man dann eher an das raue Charisma von „Bonnie und Clyde“ als an die glattpolierte Aura des von der Handlung her viel ähnlicheren „A World Beyond“. Aber „Midnight Special“ ist nicht nur unfassbar stylisch inszeniert, er holt das allzu oft in CGI-Exzessen gestrandete Fantasy-Kino auch auf eine warmherzig-menschliche Ebene zurück: So hat etwa Calvin einen Handlanger, Doak (Bill Camp), den er damit beauftragt, Alton mit allen Mitteln zurückzuholen. Klar, denkt man, die Figur kennen wir – ein ruchloser Killer, der im Finale für den Helden das vorletzte Hindernis darstellen wird. Aber dann bemerkt Doak - nachdem wir ihn  schon längst in die Handlanger-Klischee-Schublade einsortiert haben - auf einmal: „Ich bin Elektriker, zertifiziert in zwei Staaten, was mache ich hier eigentlich?“

    Jeff Nichols beweist wie schon in „Take Shelter“ und in „Mud – Kein Ausweg“, dass er eine besonders sensible erzählerische Antenne für das Besondere im Normalen und für das Unerhörte im Besonderen besitzt – und so gewinnen in „Midnight Special“ auch jene Dinge wieder eine Bedeutung, die inzwischen so sehr zum Standard (nicht nur) des Superkräfte-Films gehören, dass ihnen meist schon gar kein Gewicht mehr beigemessen wird: Wenn Roy und Lucas einen Streifenpolizisten anschießen, kostet sie das nicht nur echte Überwindung, es ist auch keinesfalls in der nächsten Szene schon wieder vergessen. Ähnliches gilt für Altons Kräfte, die zwar tricktechnisch nicht perfekt, aber dafür mit einer ganz eigenen Magie und Schönheit umgesetzt sind: Ob in einem Superheldenfilm ein Wolkenkratzer oder in China ein Sack Reis umfällt, das ist inzwischen doch meist Jacke wie Hose – aber hier staunen wir plötzlich wieder, selbst wenn Alton „nur“ das Gras um sich herum zum Verfaulen bringt. Das hat sicher auch damit zu tun, dass es in „Midnight Special“ eben überhaupt nicht um die Rettung der Menschheit, sondern allein um das Glück des jungen Protagonisten geht – und um die Liebe derjenigen, die mit allen Mitteln versuchen, ihn zu beschützen.

    Fazit: Jeff Nichols‘ eigenwillig schöne Science-Fiction-Vision „Midnight Special“ hat das Zeug zum Kultfilm.

    Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top