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    Blue Ruin
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Blue Ruin
    Von Christoph Petersen

    Die Protagonisten in Rache-Filmen sind oft selbst Killer („Kill Bill“), Gangster („Dead Man Down“) oder Ex-Soldaten („Harry Brown“), denn so spart man sich die Erklärung, warum sie bei ihren Feldzügen auf jedes neue Hindernis so cool reagieren. Und wenn dann doch mal Männer mit ganz normalen Berufen in einen Racheplot hineingezogen werden, etwa der Architekt Paul Kersey in „Ein Mann sieht rot“ oder der Manager Nick Hume in „Death Sentence - Todesurteil“, dann besetzt man die Rollen eben mit harten Kerlen wie Charles Bronson oder Kevin Bacon, denen man den Sprung vom Schreibtischtäter zur Mordmaschine ohne weiteres zutraut. In seinem per Kickstarter-Kampagne finanzierten und bei seiner Weltpremiere bei den Filmfestspielen in Cannes 2013 mit dem FIPRESCI-Kritikerpreis bedachten Thriller „Blue Ruin“ geht Regisseur Jeremy Saulnier („Murder Party“) allerdings einen erfrischend anderen Weg und gewinnt dem längst ausgelutscht geglaubten Rache-Genre so doch noch ein unbedingt bemerkenswertes Indie-Highlight ab.

    Dwight (Macon Blair) lebt in einem abgewrackten Auto am Strand, sein Essen sucht er sich in den Mülltonnen des nahegelegenen Vergnügungsparks. Als die Polizistin Eddy (Sidné Anderson) an seine Scheibe klopft und ihn bittet, mit auf die Wache zu kommen, denkt Dwight zunächst an den Tag zuvor, als er in das Haus einer fremden Familie einstieg, um ein Bad zu nehmen. Aber darum geht es gar nicht. Stattdessen wollte Eddy einfach nicht, dass Dwight alleine ist, wenn er von Wade Clelands (Sandy Barnett) baldiger Entlassung aus dem Gefängnis erfährt. Denn schließlich ist das der Mann, der für den Mord an Dwights Eltern zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Dwight macht sein Auto wieder startklar, begibt sich auf die Suche nach einer Waffe und wartet am Gefängnistor auf Wade…

    Es ist immer wieder erstaunlich, wenn unbescholtene Familienväter in Filmen ganz genau wissen, welchen zwielichtigen Typen sie an der nächsten Straßenecke anquatschen müssen, um an eine nicht registrierte Waffe heranzukommen. Dwight tut sich bei seiner Suche nach einer Knarre deutlich schwerer. Zwar gelingt es ihm, kurzerhand einen Revolver aus dem Handschuhfach eines parkenden Autos zu stehlen, doch bekommt er anschließend das Pistolen-Sicherheitsschloss am Abzug nicht aufgebrochen – selbst als er mit einem Stein darauf eindrischt, haut er schlussendlich nur die Trommel aus der Waffe. „Blue Ruin“ ist ein Rachefilm ohne die üblichen Klischees und Übertreibungen, zu diesem Eindruck tragen auch der naturalistische Indie-Look (Regisseur Jeremy Saulnier ist zugleich auch Kameramann) und Hauptdarsteller Macon Blair („Murder Party“) bei. Der Leading-Man-Newcomer zeigt nicht nur eine grandiose Darbietung und lässt unter der fast sprachlosen Oberfläche des wortkargen Dwight immer wieder eine erstaunliche Charaktertiefe hervorblitzen, sondern er ist schon allein vom Aussehen her auch so ziemlich der letzte Mensch auf diesem Planeten, dem ein solch fatalistischer Rachefeldzug zuzutrauen wäre (man schaue sich nur mal dieses Profilfoto an).

    Mit dem Umstand, dass Dwight eben nicht plötzlich zum Rache-Supermann mutiert, erhält fast schon automatisch auch eine gehörige Portion schwarzer Humor Einzug in den Film, denn neben dem Missgeschick mit dem geschrotteten Revolver passieren dem Normalo auch noch einige weitere Pannen. Und während der jeweils sehr kurzen, pointierten Gewaltausbrüche schreckt Saulnier selbst vor extrem blutigen Bildern nicht zurück. Da ist es kein Wunder, dass der Regisseur bereits mit dem jungen Quentin Tarantino verglichen wird. Allerdings passt ein anderer Vergleich noch viel besser, nämlich der zu den Coen-Brüdern und ihrem Debüt „Blood Simple“. Schließlich entsprang der düstere Witz auch dort der Idee, „normale“ Menschen in extreme Situationen geraten zu lassen, während Tarantino bekanntlich meist lieber das Figurenrepertoire seiner Lieblingsfilme plündert und sich durch die halbe Popkultur-Historie zitiert. Aber „Blue Ruin“ ist auch in seiner schnörkellosen, auf das absolute Minimum heruntergebrochenen Dramaturgie eben kein Genreregeln reflektierender oder gar auf den Kopf stellender Meta-Film, sondern in erster Linie ein atmosphärisch-emotionaler Schlag-in-die-Magengrube-Thriller – nicht zuletzt weil Saulnier immer ganz dicht bei seinem unwahrscheinlichen Protagonisten bleibt.

    Fazit: Spannend, schwarzhumorig, schnörkellos – sein Rache-Thriller „Blue Ruin“ hat Regisseur Jeremy Saulnier völlig zu Recht in den Rang eines der meistbeachteten US-Indie-Filmer katapultiert. Hollywood-Großprojekt, wir hören dir trapsen…

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