Es gibt Schauspieler, die würden selbst eine Verfilmung des New Yorker Telefonbuchs in ein fesselndes Leinwanderlebnis verwandeln. Und wer ein so radikal reduziertes Projekt wie das spartanische Kammerspiel-Drama „No Turning Back“ überzeugend umsetzen will, der braucht einen ebensolchen Edelmimen. Die Wahl des britischen Regisseurs und Drehbuchautors Steven Knight („Redemption - Stunde der Vergeltung“) fiel auf seinen Landsmann Tom Hardy - und damit lag er goldrichtig. Der vor allem als kantiger Batman-Gegner Bane in „The Dark Knight Rises“ bekannt gewordene Schauspieler ist hier für knapp anderthalb Stunden beim Autofahren im Feierabendverkehr zu sehen, während er sich simultan am Mobiltelefon mit existenziellen persönlichen Problemen abrackert, und er zeigt dabei nicht zum ersten Mal, dass in ihm ein ebenso vielseitiger wie charismatischer Charakterdarsteller steckt. Gegenüber vergleichbaren Filmen wie Ryan Reynolds‘ Sarg-Solo „Buried - Lebendig begraben“ oder dem Telefonzellen-Thriller „Nicht auflegen!“ fehlt diesem Ein-Personen-Stück zwar das Element der Todesgefahr, aber es ist deshalb nicht minder spannend – und das liegt nicht nur am fantastischen Hauptdarsteller, sondern auch an Knights packenden Dialogen und der intensiven Interaktion Hardys mit seinen nicht sichtbaren Gesprächspartnern.
Bau-Ingenieur Ivan Locke (Tom Hardy) ist auf dem Weg nach Hause, als ein simpler Anruf sein Leben für immer verändert: Ein spontaner, alkoholbefeuerter Seitensprung während einer Betriebsfeier hat Früchte getragen. Bethan (Stimme: Olivia Colman), die Ivan danach nie wiedergesehen hat, liegt bereits im Krankenhaus auf der Entbindungsstation, als er davon erfährt, dass er in wenigen Stunden zum dritten Mal Vater wird. Derweil wartet zuhause in Birmingham seine Frau Katrina (Stimme: Ruth Wilson) mit den beiden Söhnen Eddie (Stimme: Tom Holland) und Sean (Stimme: Bill Milner) auf ihn; die ganze Familie will gemeinsam ein wichtiges Fußballspiel ihrer favorisierten Mannschaft im Fernsehen verfolgen. Doch der konsternierte und grippegeschwächte Ivan beschließt spontan, stattdessen nach London zu fahren, um der Geburt seines Sohnes beizuwohnen. Durch diese Kursänderung kann er auch den wichtigsten Arbeitstermin seiner Karriere nicht wahrnehmen, was ihm mächtig Ärger einbringt. Nun will er per Telefon wenigstens dafür sorgen, dass seine Großbaustelle am nächsten Morgen korrekt mit Beton befüllt wird.
Egal was man sonst von dem Film in Erinnerung behält, ein Detail aus „No Turning Back“ wird wohl kein Zuschauer jemals vergessen: C6! Das ist die Sorte Beton, die für Ivan Lockes Großprojekt verwendet werden muss und das ist die Experten-Info, die der Ingenieur unbedingt an die richtigen Leute bringen will, um ein Baustellen-Fiasko zu verhindern: „Wenn es um Beton geht, kann man nicht auf Gott vertrauen“ („you can‘t trust god, when it comes to concrete“) macht er seinem Erfüllungsgehilfen Donal (Stimme: Andrew Scott) in einem der zahlreichen brillant-markanten Dialoge eindringlich und unmissverständlich klar. Steven Knight, der ja schon als versierter Drehbuchautor („Tödliche Versprechen“, Oscar-Nominierung für „Kleine schmutzige Tricks“) bekannt ist, veredelt seinen Film immer wieder mit rhetorisch ausgefeilten Kabinettstückchen und da fällt es dann irgendwann kaum noch auf, dass er den Zuschauern in seiner zweiten Regiearbeit nicht viel mehr zu betrachten gibt als seinen Protagonisten am Steuer und die Innenansicht eines dunklen Automobils.
Bei der räumlichen und zeitlichen Zuspitzung (die Erzählung verläuft weitgehend in Echtzeit) geht Knight genauso weit oder noch weiter als andere, was ihn aber letztlich von vergleichbar angelegten Vorbildern abhebt, ist der Verzicht auf die dramatische Extremsituation: Hier geht es nicht um Leben und Tod, sondern „lediglich“ um das persönliche Seelenwohl des Protagonisten und so setzt Knight auch (so gut wie) nie auf Suspense à la Hitchcock (der vom Seenot-Drama „Das Rettungsboot“ bis zum Hinterhof-Voyeurismus in „Das Fenster zum Hof“ verschiedene minimalistische Szenarien durchgespielt hat), sondern unterstreicht in souveräner Unaufgeregtheit noch die Alltäglichkeit von Lockes Problemen. Der Protagonist wird als aufrechter Charakter porträtiert, der sich einen folgenschweren, aber keineswegs ungewöhnlichen Fehler geleistet hat und daran nun schwer zu knabbern hat: Er versucht das Richtige zu tun, selbst wenn es falsch ist. So fällt es leicht, emotionale Bande zu dem Autofahrer im Dauerstress zu knüpfen und erst wenn das längst geschehen ist, erhöht der Regisseur die Schlagzahl und wechselt in steigendem Tempo von einem Krisenherd zum anderen.
Tom Hardy ist ein wandlungsfähiger Typ, der sich in großtourigen Blockbustern („The Dark Knight Rises“, „Inception“) ebenso wohlfühlt wie als harter Macker („Warrior“, „Lawless“, „Bronson“). Jetzt zeigt sich der Brite als emotional rotierender Familienvater am Rande des Abgrunds, der sich abstrampelt wie ein geprügelter Hund im tiefen Wasser, von einer noch anderen Seite. Dabei meistert er die Tour-de-Force der Dauerpräsenz ebenso wie die scharfkantigen Dialogzeilen bravourös. Dem Regisseur Steven Knight ist indes bei aller wohltuenden Konzentration aufs Wesentliche ein wenig anzumerken, dass er hinter der Kamera noch nicht die gleiche Klasse besitzt wie als Drehbuchautor. Während er das Maximum an emotionaler Spannung und Aufmerksamkeit aus den telefonischen Wortgefechten herausholt, wirkt die absichtsvoll zurückgenommene Inszenierung zuweilen etwas eintönig. Da flackern mal ein paar Lichter hübsch bunt auf, das Display der Telefonanlage wird als Informationslieferant und Lichtquelle miteinbezogen, aber sonst passiert visuell nicht viel. Doch ehe auch nur eine Spur von Leerlauf aufkommen kann, reißt Tom Hardy das Steuer immer wieder beherzt herum und sichert sich die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums.
Fazit: Steven Knights immenser Mut zur Reduktion macht sich bezahlt: Sein minimalistisches Kammerspiel-Drama „No Turning Back“ ist eine packende Charakterstudie - ein Mann, ein Spielort, kein Stillstand!