Aufmerksame Beobachter haben die 63. Ausgabe des Filmfestivals als Berlinale der starken Frauen bezeichnet. Die Präsenz prägender weiblicher Hauptfiguren war in der Tat gerade im Wettbewerb 2013 auffällig. Das gilt auch für den Gewinner des Goldenen Bären für den Besten Film: Im Zentrum von Calin Peter Netzers Drama „Mutter und Sohn" steht die beeindruckende Luminita Gheorghiu als übermächtige Mutter, die ihren längst erwachsenen Sohn Barbu auch dann noch bevormundet, als dieser längst selbst die Verantwortung für sein Handeln übernehmen will. Die große Qualität des Films liegt dabei nicht nur in der ambivalenten Zeichnung seiner Hauptfigur (Stärke ist eben nicht nur etwas Positives), sondern auch in der subtilen Analyse der rumänischen Gesellschaft, die fast 25 Jahre nach dem Ende der Ceausescu-Diktatur immer noch von den alten Verflechtungen geprägt ist, zu denen sich längst die Exzesse des Kapitalismus gesellt haben.
Die 60-jährige Cornelia (Luminita Gheorghiu) ist die Frau eines wohlhabenden Mannes und hauptberuflich Mutter. Ihr Sohn Barbu (Bogdan Dumitrache) sucht indes mit 34 Jahren immer noch nach seinem Platz im Leben. Als Barbu auf der Landstraße einen Unfall verursacht, bei dem ein Junge ums Leben kommt, sieht Cornelia ihre Mutterinstinkte gefragt: Während ihr Sohn lethargisch mit dem Schicksal hadert, versucht sie mit all ihrer Macht und Überredungskunst, eine unangenehme polizeiliche Ermittlung und eventuelle Strafe zu verhindern. Bis hin zu Erpressung und Bestechung reichen ihre Methoden, die selbst Barbu zunehmend ablehnt.
Obwohl in Rumänien jährlich nur etwa 20 Filme produziert werden, hat das Land in der jüngeren Vergangenheit einige der aufregendsten Regisseure des Weltkinos hervorgebracht: Neben Cristian Mungiu, der mit seinem Abtreibungsdrama „Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage" 2007 in Cannes die Goldene Palme gewann, sorgten vor allem Cristi Puiu („Der Tod des Herrn Lazarescu", „Aurora"), Corneliu Porumboiu („Police, Adjective") und nun auch Calin Peter Netzer („Ehrenmedaille") für Aufsehen auf internationalen Festivals. Immer wieder ist angesichts dieser Präsenz von einer rumänischen neuen Welle die Rede und auch wenn solche Etiketten oft genauso irreführend wie einleuchtend sind, haben Mungiu und Co. in der Tat mehr gemeinsam als nur ihr Herkunftsland.
Die genannten Regisseure und ihre wichtigsten technischen Mitarbeiter gehören alle der gleichen Generation an. Sie waren beim Sturz der Ceausescu-Diktatur 1989 Teenager oder junge Erwachsene und durchlebten dann den demokratischen Umbruch sowie die größtenteils schnell enttäuschten Versprechungen des Kapitalismus. Aus der persönlichen Erfahrung von politischen und sozialen Umwälzungen entstanden Filme, in denen sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart sehr kritisch und direkt unter die Lupe genommen werden. Im Zentrum der Filme steht vorwiegend eine sehr sorgfältig-geduldige und ungeschönte, oft dokumentarisch anmutende Alltagsbeobachtung in langen Einstellungen und mit viel Handkameraeinsatz. Die scharfe Kritik an den Zuständen und die klare Analyse der Verhältnisse ergeben sich dabei in vielen Fällen ganz organisch und geradezu unterschwellig. Das gilt in besonderem Maße auch für Netzers Film, der nie plakativ oder didaktisch wird.
Die besondere Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit des neuen rumänischen Kinos ist eng verbunden mit seinen Darstellern. Das zeigt sich hier vor allem bei Luminita Gheorghiu („Code: Unbekannt") erneut, die auch schon in „Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage" sowie in „Aurora" mitgespielt hat, und die als Cornelia in nahezu jeder Szene von „Mutter und Sohn" zu sehen ist. Trotz der herausgehobenen Rolle ist Gheorghius Darstellung von jeder Eitelkeit weit entfernt. Wie so viele Figuren im neuen rumänischen Kino ist diese Übermutter anfangs noch höchst unsympathisch, wird im Laufe des Films aber immer menschlicher, ohne dass der Wandel nach Hollywood-Manier herausgekehrt würde. Zunächst ist diese Cornelia mit ihrem Pelzmantel und ihrer Föhnfrisur noch ganz von Oberschichtarroganz durchdrungen und fest von der eigenen Überlegenheit überzeugt. Doch dann tun sich allmählich kleine Risse in der Fassade auf, und irgendwann zeichnen sich ganz leise Zweifel in Gheorghius Gesicht ab.
Cornelias Versuch, ihren Sohn Barbu mit Bestechung vor dem Gefängnis zu bewahren, ist hier gar nicht einmal das Bemerkenswerte, zum regelrechten Muttermonster wird sie erst dadurch, dass sie ihren Nachwuchs konsequent unterdrückt und dazu sogar Medikamente einsetzt. Barbu machen diese lethargisch, er zeigt lange Zeit kaum Eigeninitiative - bis er sich schlussendlich doch gegen die Mutter stellt. Die Figur des Sohnes steht damit symbolisch auch für die Gesellschaft als Ganzes und für die Situation der post-revolutionären Filmemacher wie Netzer. Die jüngere Generation muss sich von den überkommenen Strukturen und den altbackenen Konzepten ihrer Vorgänger befreien, um zu einer modernen eigenen Sprache zu finden. Gerade dieser dezidiert (gesellschafts-)politische Ansatz ist es, der „Mutter und Sohn" so spannend macht. Seit dem Sturz der Diktatur sind zwar lange Jahre vergangen, die Art und Weise wie die „Elite" Rumäniens ihre Stellung verteidigt, hat sich aber kaum verändert. Waren es einst die Seilschaften innerhalb des kommunistischen Systems, die über Wohl und Wehe, über Studienplätze oder Gefängnisstrafen bestimmten, sind es nun die schlichten Regeln des Kapitalismus: Es „gewinnt" ganz schlicht, wer das meiste Geld zahlen kann.
Fazit: Calin Peter Netzers beeindruckendes Drama „Mutter und Sohn" ist in der Verbindung von persönlicher Erzählung, subtiler gesellschaftskritischer Analyse, brillantem Schauspiel und formaler Kunstfertigkeit ein Paradebeispiel für das neue rumänische Kino und ein hochverdienter Sieger des Goldenen Bären der Berlinale 2013.