Immer wieder werden herausragende Arthouse- und Genre-Regisseure wie David Fincher („Gone Girl“), Alexander Payne („The Descendants“) und Paul Thomas Anderson („The Master“) bei Interviews gefragt, ob sie sich vorstellen können, einen Superhelden-Film zu inszenieren. Die meisten Fragesteller dürften dabei an so etwas wie Christopher Nolans „The Dark Knight“-Trilogie denken, es geht aber auch ganz anders. Das zeigt der mexikanische Meisterregisseur Alejandro González Iñárritu („Babel“, „21 Gramm“) mit seinem ganz persönlichen Genrebeitrag. „Birdman (oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ ist kein Comic-Helden-Actiongewitter mit Mega-Budget, sondern vielmehr eine bitterböse Demontage des formelhaften Hollywood-Kinos - zumindest auf einer Ebene. Die brillant inszenierte Tragikomödie ist gleichzeitig aber auch ein tragisches Künstlerdrama, eine vor Spott beißende Satire, eine schonungslos schwarze Komödie und schlicht fantastisches Schauspielerkino sowie - welch doppelte Ironie - die Wiederauferstehung eines ehemaligen Superhelden-Darstellers: nicht mehr und nicht weniger als ein cineastisches Wunder.
Der Hollywoodstar Riggan Thomson (Michael Keaton) feierte zu Beginn der 90er Jahre als Superheld „Birdman“ in einer Comic-Blockbuster-Reihe riesige Erfolge. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Nachdem er „Birdman 4“ ablehnte, ist Thomson im Karrieretief versunken und sein Ruhm verblasst. Mit der Aufführung eines ambitionierten Theaterstücks am Broadway will er nun die Wende schaffen. Er inszeniert die Raymond-Carver-Adaption „What We Talk About When We Talk About Love“ und spielt dazu noch die Hauptrolle. Allerdings verfällt er vor den finalen Publikumsproben in akute Panik, was seinen Manager und Produzenten Brandon (Zack Galifianakis) gewaltig ins Rotieren bringt. Schließlich ersetzt Thomson einen seiner zentralen Schauspieler (Damian Young) durch den exzentrischen Star Mike Shiner (Edward Norton). Das hilft zwar, mehr Tickets zu verkaufen, erweist sich für die Produktion aber auch als tickende Zeitbombe. Der Heißsporn Shiner versucht spontan, auf der Bühne mit Co-Star und Ex-Freundin Lesley (Naomi Watts) zu schlafen, er rastet aus, wenn er Requisiten bespielen muss und jagt auch noch dem Rock von Thomsons Tochter Sam (Emma Stone) hinterher, die als Assistentin an der Produktion beteiligt ist. Der Regisseur wird zudem von seiner Freundin Laura (Andrea Riseborough) und seiner Ex-Frau Sylvia (Amy Ryan) geplagt, während die Premiere immer näher rückt.
Wie zuletzt bei Alejandro González Iñárritus schwermütigem Melodram „Biutiful“ sind auch bei „Birdman“ die Grenzen zwischen Realität und Fantasie fließend: Gleich zu Beginn sehen wir die Hauptfigur Riggan Thomson im Schneidersitz in seiner schäbigen New Yorker Theatergarderobe – schwebend! Eine raue, mächtige Stimme, die klingt, als gehörte sie Batmans großem Bruder, spricht zu ihm. Es handelt sich aber um Birdman, jene etwas lächerliche Leinwandfigur, die Thomson einst reich und berühmt gemacht hat. Um die Gemütszustände seines Protagonisten zu verbildlichen, greift Iñárritu auf allerlei surreale Elemente zurück. So sieht man Thomson/Birdman durch die Häuserschluchten von New York fliegen und außerdem verfügt er augenscheinlich über die Gabe, Gegenstände per Gedankenkraft zu bewegen. So setzt Thomson auch womöglich einen Scheinwerfer in Schwung, der seiner verhassten Stümper-Besetzung einen über den Schädel zieht und den Platz für Mike Shiner frei macht - offiziell handelt es sich natürlich um einen tragischen Unfall. Der Regisseur am Rande des Nervenzusammenbruchs ist dabei zugleich die ideale Hauptfigur für ein Hinter-den-Kulissen-Drama, in dem die Frage nach Schein und Sein in einem Spiel ständiger Spiegelungen virtuos durchdekliniert wird. Da sehen wir plötzlich einen Straßenmusiker, der den zuvor nur aus dem Off zu hörenden Jazz-Soundtrack zum Besten gibt (und der später ohne Erklärung auch im Theater auftaucht) und da verwechselt nicht nur der manische Superstar Mike Shiner ständig Kunst und Leben, die hier bis zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen – auch die Zeilen von Carvers Theaterstück bindet Iñárritu organisch in seine eigene Handlung ein.
„Birdman“ ist Kino, das Theater spielt und Theater, wie es filmischer nicht sein könnte. Humor und Ernst, Hysterie und Paranoia, tragische Momente und Slapstick-Nummern wechseln sich hier ständig ab – trotzdem gerät „Birdman“ nie aus der Balance. Alejandro González Iñárritu nimmt die unstillbare Gier nach (medialer) Aufmerksamkeit, den Irrsinn des Showbusiness in allen seinen Facetten unerbittlich aufs Korn und formt aus diesen Elementen eine rasende Geschichte, die von der famosen, fiebrigen Filmmusik von Jazz-Schlagzeuger Antonio Sanchez gnadenlos vorangetrieben wird. Die innere Unruhe der Figuren und des Theaterbetriebs spiegelt sich in der Inszenierung: Die Kamera von Emmanuel Lubezki („Gravity“, „The Tree Of Life“) schwebt, fliegt und kreiselt buchstäblich und permanent, denn Iñárritu hat „Birdman“ als eine einzige Plansequenz angelegt und es sieht zumindest so aus, als ob er ohne einen einzigen Schnitt auskommt (was technisch nicht ganz stimmt). Das ist nicht nur eine schöne Hommage an Alfred Hitchcock, der bereits 1948 in „Cocktail für eine Leiche“ Ähnliches versuchte, sondern ein geradezu genialer Regieeinfall. Neben dem sinnlichen Vergnügen, das die ausgeklügelten Kameramanöver immer wieder bereiten, erzeugt der Regisseur einen ununterbrochenen Handlungsfluss von atemberaubender Intensität. Fast alle Szenen spielen in dem labyrinthischen Broadway-Theater, das nur für kurze Momente verlassen wird. Die Kamera folgt immer einer der Figuren, fokussiert sich dann auf jemanden und folgt dieser Person. So entsteht eine unglaubliche Dynamik, die durch die extrem hohe Dichte der messerscharfen und bissigen Dialoge zusätzlich befeuert wird.
Das grandiose Drehbuch von Nicolás Giacobone („Biutiful“), Alexander Dinelaris, Armando Bo („Biutiful“) und Regisseur Iñárritu ist eine Steilvorlage für ein überragendes Ensemble. Michael Keaton („Batman“, „RoboCop“) war nie besser und liefert als Antiheld eine oscarwürdige Vorstellung ab. Sein Riggan Thomson ist wie ein verglühender Stern, der sich mit aller Macht seinem vorgezeichneten Schicksal entgegenstemmt. Wenn er verzweifelt versucht, seine Karriere zu retten und sich dabei immer näher an den Rand des Zusammenbruchs manövriert, gehören alle Sympathien ihm. Keatons doppelbödige Tour-de-Force ist aber nicht das einzige schauspielerische Highlight in „Birdman“. Was Edward Norton („Fight Club“, „American History X“) hier als radikaler Method-Actor Mike Shiner abzieht, ist der irrste Schauspielstunt seit Daniel Day-Lewis‘ Darstellung des Ölbarons Daniel Plainview in Paul Thomas Andersons „There Will Be Blood“. Norton geht völlig in der Figur auf. Hemmungslos gibt er zunächst die keifende Furie, die scheinbar von niemandem unter Kontrolle gebracht werden kann, offenbart dann jedoch in den Szenen mit Emma Stones („Einfach zu haben“, „The Help“) tougher, aber doch verletzlicher Sam menschliche Dimensionen und erlaubt uns einen tiefen Blick in Mikes Seele. Von den Nebendarstellern überrascht „Hangover“-Star und Komiker Zach Galifianakis („Stichtag“) mit einer durchgehend ernsten, subtil-nuancierten Darbietung als engelsgeduldiger Manager Brandon. Aber auch Naomi Watts („Mulholland Drive“), Andrea Riseborough („Oblivion“) und Amy Ryan („Gone Baby Gone“) bekommen denkwürdige Szenen.
Der Regisseur überflutet seinen Film förmlich mit offener und unterschwelliger Kritik am Hollywood-Betrieb. Da gibt es ironische Verweise auf Woody Harrelson, Robert Downey Jr., Michael Fassbender und viele andere bis hin zu Justin Bieber. Und es ist sicher kein vollkommener Zufall, dass seine drei zentralen Figuren mit Darstellern besetzt sind, die Erfahrung im Superhelden-Genre haben (Keaton = Batman, Norton = Bruce Banner in „Der unglaubliche Hulk“ und Stone = Gwen Stacy in „The Amazing Spider-Man“). Für den Gigantismus dieser Filme, in denen Effekte wichtiger sind als etwa darstellerische Leistungen, hat der mexikanische Regisseur nur Verachtung übrig. Wenn der Star Riggan Thomson immer wieder als „mittelmäßiger Schauspieler“ gepiesackt wird, dann dreht Iñárritu damit indirekt dem Blockbuster-Kino eine Nase. Und mit ihren herausragenden Darbietungen in „Birdman“ geben ihm die Schauspieler Recht. Zugleich bekommt nicht nur die Traumfabrik Tinseltown ihr Fett weg, sondern Iñárritu brandmarkt außerdem den (Broadway-)Theaterbetrieb als Heimat eitlen Kunstgewerbes und führt die professionellen Top-Kritiker als eingebildete und ausschließlich von eigenen Interessen geleitete Selbstdarsteller vor. Auch einen Seitenhieb auf die sozialen Medien kann er sich nicht verkneifen, wenn eine Eskapade Thomsons mit absurden Konsequenzen „viral geht“. Der bissige Rundumschlag gegen die Auswüchse der Unterhaltungsindustrie gibt dem Film zusätzliche Energie, zugleich zeigt Iñárritu, wie es gemacht wird und beweist, dass sich künstlerischer Anspruch und köstliche Unterhaltung nicht gegenseitig ausschließen müssen.
Fazit: Alejandro González Iñárritu legt mit der spektakulär-vielschichtigen schwarzen Tragikomödie „Birdman“ ein handwerklich wie schauspielerisch virtuoses Meisterwerk vor – ein fiebrig-surrealer Triumph.