Die Strecke von Dover nach Calais ist für Leistungsschwimmer das, was für Bergsteiger der Mount Everest ist: Gut 32 Kilometer ist der Ärmelkanal an dieser Stelle breit, und dank Tide und starken Strömungen zusätzlich anspruchsvolles Terrain. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gelang es den ersten Mutigen, die heute stark befahrene Wasserstraße ohne Unterbrechung zu durchqueren, und mittlerweile versuchen sich über 100 Schwimmer jährlich an dieser Extremerfahrung. Dass dazu nicht nur Mut, sondern auch hartes Training notwendig ist, verdeutlicht Filmemacher Marc Rensing („Alpha 0.7 – Der Feind in dir“) im Eröffnungsfilm der Hofer Filmtage 2013: In „Die Frau, die sich traut“ begibt sich die 50-jährige Beate (Steffi Kühnert) ohne wärmenden Neoprenanzug ins kühle Nass und möchte sich mit der Durchquerung des Ärmelkanals einen ewigen Lebenstraum erfüllen. Rensings zweite Leinwandarbeit in Spielfilmlänge ist stark gespielt, humorvoll und tragisch - ein bisschen mehr Mut zum Unkonventionellen hätte dem Drama jedoch gut zu Gesicht gestanden hätte.
Die ehemalige DDR-Leistungsschwimmerin Beate (Steffi Kühnert) erhält von den Ärzten eine niederschmetternde Diagnose: Sie hat Gebärmutterhalskrebs im fortgeschrittenen Stadium – und ist daran nicht ganz unschuldig, weil sie jahrelang nicht zur Vorsorgeuntersuchung gegangen ist. Grund genug für die Wäschereiangestellte, ihre Lebenssituation zu überdenken und sich ein letztes großes Ziel zu setzen: Sie möchte einmal durch den Ärmelkanal schwimmen. Gesagt, getan: Beate stellt alle Gedanken an eine Chemotherapie hinten an, kündigt ihren Job und verbringt fortan einen Großteil ihrer Zeit in der kalten Ostsee. Ihre gestresste Tochter Rike (Christina Hecke), die mit Anfang 30 kurz vor dem Examen steht und bis dato immer ihre kleine Tochter Lara (Lene Oderich) bei Beate parken durfte, sieht diesen plötzlichen Sinneswandel ebenso kritisch wie Beates Sohn Alex (Steve Windolf), der mit seiner Freundin Katrin (Anna Blomeier) noch in Beates Haus wohnt, weil die beiden sich keine eigene Wohnung leisten können. Doch weder Rike noch Alex ahnen etwas von der Krebsdiagnose: Einzige Eingeweihte ist Beates beste Freund Henni (Jenny Schily)…
Die gelernte Theater-Schauspielerin und Bundesverdienstkreuz-Trägerin Steffi Kühnert („Wolke 9“, „Das weiße Band“) glänzte bereits 2011 in einem Krebsdrama. In Andreas Dresens starkem Filmpreis-Abräumer „Halt auf freier Strecke“ spielte sie die gebeutelte Ehefrau eines Tumorkranken (Milan Peschel), der nur noch wenige Wochen zu leben hat. Musste Kühnert in Dresens bewegendem Sterbedrama noch über weite Strecken dem brillant aufspielenden Peschel das Feld überlassen, glänzt sie diesmal selbst in der Hauptrolle – und die ist nicht nur anspruchsvoll, sondern auch verdammt mutig. Kühnert, mit 50 Jahren wahrlich kein junger Hüpfer mehr, verkörpert im Film schließlich eine Ex-Athletin, an deren Körper die dreißigjährige Wettkampfpause keineswegs spurlos vorbei gegangen ist und verbringt einen Großteil des Films im Badeanzug. „Ich komm mir vor wie ein schwimmender Sarg!“, stellt die Beinahe-Olympionikin Beate nach den ersten Trainingseinheiten am Ostseestrand ernüchtert fest, und läutet mit dieser erfrischenden Selbstironie den humorvollen Mittelteil des Films ein.
Für zahlreiche Lacher sorgen dabei die köstlichen Szenen mit Sohn Alex und dessen schwangerer und zunehmend genervter Freundin Katrin, die im Eifer des Gefechts auch mal Alex‘ heißgeliebte Plattensammlung mit der Axt zerhackt. Das junge Paar muss sich im „Hotel Mama“ erst einmal an Beates neuen Lebensrhythmus gewöhnen: Die ehrgeizige Schwimmerin bringt mit nächtlichem Ergometer-Training die Wände zum Wackeln, verschläft den kompletten Vormittag und lässt die Schmutzwäsche auch mal Schmutzwäsche sein, so dass sich Alex wohl oder übel mit einem karierten Freizeithemd auf den Weg zur Arbeit machen muss. Nicht ganz so amüsant gestalten sich die etwas konstruiert wirkenden Mutter-Tochter-Szenen mit der lerngestressten Rike und ihrer aufgeweckten Tochter Lara: Wenn das Essen bei der wenig herderprobten Mama nicht ansatzweise so gut schmeckt wie bei Oma und sich der Kleinen schon nach dem ersten Bissen die Frage nach Fast Food-Alternativen stellt, weckt das unweigerlich Erinnerungen an Til Schweigers Patchwork-Komödie „Kokowääh“, die zumindest im Hinblick auf die Tischgespräche deutlich kurzweiliger ausfiel.
Der zentrale Konflikt in „Die Frau, die sich traut“ ist Beates Geheimniskrämerei gegenüber ihren eigenen Kindern, so dass der Film genauso gut „Die Frau, die sich nicht traut“ heißen könnte: Beate bringt nicht den Mut dazu auf, Rike und Alex ihre Krebserkrankung zu beichten, weil sie ihre Kinder nicht belasten möchte. Ganz einleuchten tut dies nicht: Geht es schließlich um die Erfüllung des eigenen Schwimmtraums, kennt Beate von heute auf morgen keine Verwandten mehr und belastet ihre Kinder durch den plötzlichen Sinneswandel deutlich mehr. Die 180°-Wende von der selbstlosen Mutter und Oma hin zur egozentrischen Extremschwimmerin kommt recht abrupt und wirkt nicht vollends glaubwürdig, weil sowohl das schulische Wohl der Enkelin als auch das Examen der Tochter und die Beförderung des Sohnes infrage gestellt werden. Auf der Zielgeraden verlässt Filmemacher Marc Rensing zudem ein wenig der Mut: Der Regisseur, der mit Leinwand-Debütantin Annette Friedmann auch das Drehbuch schrieb, unterwirft sich der klassischen Sportfilmdramaturgie und lässt seinen bis dato angenehm kitschfreien Film ein wenig zu melodramatisch ausklingen.
Fazit: Trotz kleinerer Drehbuchschwächen überzeugt Marc Rensings „Die Frau, die sich traut“ mit vielen humorvollen Zwischentönen und einer starken Steffi Kühnert in der Hauptrolle. Erst auf der Zielgeraden gerät das Schwimmdrama ein wenig zu kitschig.