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    Oh Boy
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Oh Boy
    Von Lars-Christian Daniels

    Der Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Jan Ole Gerster ist unter Kinozuschauern wohl nur ausgewiesenen Experten ein Begriff. Beschränken sich die Leinwandaktivitäten des Multitalents bislang doch auf eine Episode der sehenswerten Kurzfilmcollage „Deutschland 09" und eine kleine Nebenrolle an der Seite von Daniel Brühl und Jürgen Vogel in Sebastian Schippers „Ein Freund von mir". In den kurzlebigen Schlagzeilen des Boulevards ist der Name Gerster hingegen bereits vorgekommen: 2006 wurde der Filmemacher auf der Berlinale nämlich an der Seite seiner damaligen Freundin Franka Potente auf dem roten Teppich fotografiert. Nach dem Ende der kurzen Liaison mit dem deutschen Hollywood-Export wurde es aber wieder stiller um Gerster. Das könnte sich bald ändern: Der Filmemacher liefert mit seiner namhaft besetzten, komplett in Schwarz-Weiß gedrehten Tragikomödie „Oh Boy!", die ihre Weltpremiere trotz gehörigem Berlinkolorit beim Filmfest in München feierte, ein starkes Langfilmdebüt ab. Nicht nur Fans der Hauptstadt kommen dabei auf ihre Kosten: Allein der blendend aufgelegte Hauptdarsteller Tom Schilling ist als Kopf einer insgesamt hervorragenden Darstellerriege das Eintrittsgeld wert.

    Der Berliner Niko Fischer (Tom Schilling), Ende 20, lebt sorglos in den Tag hinein. Sein Studium hat er ohne Wissen seines strengen Vaters (Ulrich Noethen) abgebrochen, streicht aber weiterhin dessen monatliche Überweisungen ein. Arbeitslos und ohne echte Idee, wie es mit seinem Leben vorangehen soll, sucht Niko nach seinem Platz in der Konsum- und Leistungsgesellschaft und wird eines Tages von der bitteren Realität überrollt: Seine Freundin (Katharina Schüttler) beendet unerwartet die verkorkste Beziehung, sein aufdringlicher Nachbar (Justus von Dohnányi) schüttet ihm bei Buletten und Schnaps sein Herz aus, sein Vater dreht ihm den Geldhahn zu und auch die Hoffnungen, den Führerschein zurückzubekommen, zerschlagen sich jäh, weil ihm ein Psychologe „emotionale Unausgeglichenheit" attestiert. Dann aber trifft Niko in einem Café seine ehemalige Schulkameradin Julika (Friederike Kempter) wieder – und der Katastrophentag nimmt eine überraschende Wendung...

    „Oh Boy!" ginge glatt als Episodenfilm durch – wäre da nicht Niko, um den sich in Jan Ole Gersters melancholischer Tragikomödie alles dreht. Über einen Tag begleitet der Zuschauer Nico bei seinem begegnungsreichen Streifzug durch die Straßen, Bahn-Stationen und Cafés der Hauptstadt. Mit Ausnahme der hübschen Julika (Friederike Kempter), die Niko zu Schulzeiten als „Schwulika" verspottete, und seines schauspielernden Kumpels (Marc Hosemann) taucht keine andere Figur in mehr als einer Sequenz auf. Vom gemeinsamen Aufwachen mit seiner zukünftigen Ex-Freundin über das klägliche Scheitern beim Idiotentest bis hin zum köstlichen Saufgelage mit dem plötzlich auf der Türschwelle stehenden Nachbarn - grandios: Justus von Dohnányi („Männerherzen") - dokumentiert Regisseur und Drehbuchautor Gerster einen anfangs noch normalen, am Ende aber in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Tag im Leben seines nach Halt suchenden Protagonisten und trifft bei der Schilderung von Nikos emotionaler Gratwanderung ausnahmslos den richtigen Ton.

    Gekonnt wird Niko als ein intelligenter, aber verträumter Beobachter porträtiert, ein orientierungsloser Loser, der über die Entwicklungen im modernen Berlin, über seine Mitmenschen und das Treiben seiner Umgebung staunt, aber zu spät merkt, dass er selbst ein trauriger Außenseiter geworden ist. Der in Berlin-Mitte aufgewachsene „Crazy"-Star Tom Schilling glänzt hier in der Hauptrolle und profitiert bei seiner großartigen Darbietung nicht zuletzt davon, dass er sich allen Bartstoppeln zum Trotz nie ganz von seinem Teenie-Image hat emanzipieren können: Während Schilling 2004 in „Napola - Elite für den Führer" mit Anfang 20 noch einen pubertierenden Eliteschüler mimte, spielt er in „Oh Boy!" eine Figur, die seinem tatsächlichen Alter entspricht. Und dabei wirkt der ideal besetzte Schilling gerade aufgrund seiner jugendlichen Erscheinung ungemein glaubwürdig. Insbesondere im Zusammenspiel mit der quirligen Friederike Kempter („Kokowääh") und bei der Trauer um den nächtlichen Saufgenossen Friedrich (Michael Gwisdek) stellt Schilling sein schauspielerisches Potenzial eindrucksvoll unter Beweis.

    Neben der durchdachten Geschichte, die Jan Ole Gerster trotz des episodenhaften Gerüsts stringent und ohne Längen auf die Leinwand bringt, hält der Filmemacher ein paar zusätzliche Schmankerl für Berlin-Kenner bereit. Er nimmt sich immer wieder Zeit, die Metropole in ihrer optischen und kulturellen Vielfalt einzufangen, beschränkt sich dabei aber keineswegs auf kitschige Schwarz-Weiß-Impressionen, sondern füllt sein Hauptstadtporträt gekonnt mit Leben: Niko begegnet hilfsbereiten Öko-Verkäuferinnen, die ihm mit veganer Sojamilch seinen geliebten Morgenkaffee versauen wollen, patzigen Punk-Bedienungen, die nach langer Wartezeit im Szenelokal wortlos ein Glas Wasser auf den Tisch knallen und betrunkenen Halbstarken, die ihm nachts ohne Vorwarnung die Fresse polieren. Gerster zeigt Berlin von seiner hübschen und von seiner hässlichen Seite, oft selbstironisch, aber jederzeit authentisch.

    Fazit: Mit seiner nur 83 Minuten kurzen Tragikomödie „Oh Boy!" liefert Jan Ole Gerster ein bemerkenswertes Langfilmdebüt ohne nennenswerte Schwächen ab und empfiehlt sich damit nachhaltig für größere Aufgaben. Sein von einem melancholischen Soundtrack treffend untermaltes und stellenweise dennoch brüllend komisches Berliner Stimmungsbild sei nicht nur dem Haupstadtpublikum wärmstens ans Herz gelegt.

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