Mit seinem filmischen Paukenschlag „Das Fest" betrat Thomas Vinterberg 1999 die Bühne des Weltkinos. Zuvor hatte er mit einer Gruppe junger, progressiver Filmemacher (darunter auch Lars von Trier) die „Dogma 95"-Bewegung gegründet, die sich darauf berufen hatte, ihre Filme von jedem inszenatorischem Ballast zu befreien und ein neues, authentisches Kino zu schaffen. Während von Trier ein Enfant Terrible geworden ist und mit fast jedem neuen Film, mindestens aber jedem öffentlichen Auftritt einen Mini-Skandal zu verursachen scheint, hat es Vinterberg seinen Kritikern oder Fans nie so leicht gemacht. Er drehte Genremixturen wie die Sci-Fi-Fantasy-Romanze „It´s All About Love", provozierte mit der grellen Satire „Dear Wendy" in jede denkbare Richtung, tauchte dann fünf Jahre ab und kehrte 2010 mit dem düsteren Sozialdrama „Submarino" zurück. Vinterberg wollte sich nie in eine Schublade stecken lassen und erfand sich stets neu. Die einzige Konstante: ein hoffnungsvoller Humanismus, der sich als roter Faden durch seine Filmograpfie zieht, bis zu seinem Wettbewerbsbeitrag in Cannes 2012. Mit dem Drama „Die Jagd" hat Vinterberg ein weiteres intensives Werk abgeliefert, das sich erneut stark von seinen Vorgängern unterscheidet und thematisch doch ein „typischer Vinterberg" ist.
In kleinen dänischen Ortschaften kennt und hilft man sich; die Sonne scheint und im Winter schneit's. Auch der Kindergärtner Lucas (Mads Mikkelsen) fühlt sich in einer solchen verschlafenen Ortschaft wohl. Zwar macht er gerade eine harte Scheidung durch, dabei kann er sich aber auf den Rückhalt seines Freundes Theo (Thomas Bo Larsen und der verschworenen Dorfgemeinschaft verlassen. Bald jedoch lernt er die Schattenseiten des ländlichen Lebens kennen: Theos vierjährige Tochter Klara (Annika Wedderkopp) hegt eine kindliche Liebe für ihren Kindergartenerzieher. Als sie Lucas eines Tages in romantischer Absicht auf den Mund küsst, macht er ihr klar, dass manche Dinge „nur unter Erwachsenen" sein dürfen, was sie tief enttäuscht und in ihren ersten Liebeskummer stürzt. Dabei jedoch bleibt es nicht – aus einer Laune heraus bezichtigt sie Lucas, sich vor ihr entblößt zu haben. Sie ahnt nicht, welche Flut an Misstrauen, Angst, Hass und schließlich offener Lebensgefahr sie damit heraufbeschwört...
Was als melancholische Sommerballade beginnt, wandelt sich bald zum knallharten Drama – sogar mit Thriller-Elementen, wenn sich die Dorfgemeinschaft unter der Führung des Alphatiers Theo gegen Lucas und seinen Sohn Markus (Lasse Fogelstrom) aufstellt. Für ein paar Momente glaubt man sogar, dass sich hier ein echter Backwood-Terror-Schocker in der Art von Sam Peckinpahs „Wer Gewalt sät" anbahnen könnte. Doch Vinterberg hält seinen eigenen Kurs und findet ein erzählerisches Gleichgewicht zwischen langsam gesteigerter Spannung und sehr zugänglicher Melodramatik, die zu Herzen geht. Der Filmemacher bietet zudem eine neue Perspektive auf das äußerst schwierige Thema Kindesmissbrauch an: Dass hier ein zu Unrecht beschuldigter Mann ins Fadenkreuz elterlicher bzw. dörflicher Rachsucht gerät, schärft den Blick für den blanken Blutdurst, in den die Gemeinschaft verfällt, sobald es um das Wohl der Kinder geht.
Wo verläuft die Grenze zwischen gerechtem Zorn und Lynchjustiz? Wie schnell derartige Gruppenstimmungen in die Katastrophe führen können, hat man zuletzt im Mordfall Lena in Emden gesehen, wo ein Mob einem unschuldig verhafteten Mann ans Leder wollte. Dass sich Vinterberg bei dieser Thematik nicht im Ton vergreift und stets die Kontrolle über die impliziten und expliziten Aussagen seines Films behält, ist neben seiner gekonnten, zweckdienlichen und sachlichen Inszenierung eine der vielen Stärken des Films. Seine Bilder bleiben auch dann noch klarsichtig und aufgeräumt, wenn die Geschichte längst sehr beklemmende Untertöne angenommen hat. Dass dem Kinopublikum hier eine so differenzierte Auseinandersetzung angeboten wird, ist dabei nicht nur einer selbstbewussten Regie, sondern ebenso einer hochkonzentrierten Vorarbeit – das famos farcettenreiche Drehbuch hat Vinterberg zusammen mit Tobias Lindholm geschrieben – und einer tollen Besetzung zu verdanken.
Neben Mads Mikkelsen („Casino Royale", „Kampf der Titanen"), der als sensibler Sympathieträger und später als gehetzter Außenseiter brilliert, ist es vor allem Thomas Bo Larsen („Das Fest", „Pusher") als von Wut, Ohnmacht und Zweifel zerrissener Theo, der von Anfang an nicht wirklich an die Schuld seines Freundes glaubt, doch von seiner Hilflosigkeit und seiner unartikulierten Rage in eine bittere Fehde getrieben wird. Wenn das Licht in den Kinosälen dann wieder angeht und Vinterberg sein Publikum aus seiner Versuchsanordnung zur ewigen ethisch-philosophischen Frage nach Rechtschaffenheit entlässt, wird man sich noch lange mit den Fragen und Fangfragen auseinandersetzen müssen, die er hier stellt – so muss großes Drama wirken.
Fazit: Scheinbar mühelos schüttelt Thomas Vinterberg mit „Die Jagd" eines der packendsten und herausforderndsten Dramen des Kinojahres 2012 aus dem Ärmel.