Viele Filme leben vom Drama, von Konflikten, von Problemen, die es zu überwinden gilt. „Zärtlichkeit“, der neue Film der belgischen Regisseurin Marion Hänsel, ist da ganz anders: Wenn sich da nach ein paar Minuten der junge Jack beim Skifahren das Bein bricht – was, natürlich, außerhalb des Bildes passiert – dann ist das schon fast der dramatische Höhepunkt des Films. Denn im Folgenden erzählt die Regisseurin nicht mehr, als von den seit Jahren getrennt lebenden Eltern Jacks, die ihren Sohn nach Hause holen. Zumindest auf narrativer Ebene passiert nichts, doch dank ihrer guten Beobachtungsgabe und zweier starker, subtil spielender Hauptdarsteller erzählt Hänsel in „Zärtlichkeit“ trotzdem viel über Zwischenmenschliches, Familienstrukturen und das Band einer Familie.
In den französischen Alpen fährt der junge Skilehrer Jack (Adrien Jolivet) zusammen mit seiner Freundin Alison (Margaux Chatalier) Ski. Doch auch ein erfahrener Profi macht mal Fehler und so findet sich Jack nach einem Unfall im Krankenhaus wieder. Da seine Versicherung die Überführung zurück nach Belgien nicht bezahlt, müssen seine Eltern einspringen. Die ehemalige Schauspielerin Lisa (Maryline Canto) und ihr Ex-Mann Frans (Olivier Gourmet) machen sich auf den Weg, um den Sprössling abzuholen. So viel Zeit wie während der langen Autofahrt hat das frühere Paar lange nicht miteinander verbracht, doch trotz der langen Trennung kennt man die Macken und Eigenarten des Gegenübers noch in und auswendig. Ein gewisses Maß an Zärtlichkeit ist immer noch vorhanden, auch wenn es eine ganz andere ist als die zwischen dem jungen Liebespaar Jack und Alison.
Es ist verblüffend, mit welcher Konsequenz Marion Hänsel jeder Möglichkeit, ihre Geschichte zu dramatisieren, ausweicht und statt Konflikt Harmonie zeigt. Weder zwischen den ehemaligen Ehepartnern kommt es je zum Streit, noch zwischen den Eltern und ihrem leicht schludrigen Sohn, der sein Leben noch nicht ganz in den Griff bekommt. Doch trotz dieser geradezu harmoniesüchtigen Erzählweise, bleibt „Zärtlichkeit“ über weite Strecken interessant, verlangt dabei Aufmerksamkeit und genaues Hinschauen und belohnt dieses mit einer subtilen Zeichnung von ganz normalen Menschen.
Das liegt weniger an den beiden jungen Darstellern, Adrien Jolivet („Schwarzer Ozean“) und Margaux Chatalier („Belle & Sebastian“), deren Figuren ein wenig blass bleiben und vor allem als Gegenstück zum älteren (Ex-)Paar existieren. Und dieses spielen Maryline Canto („Der Schnee am Kilimandscharo“) und der aus so ziemlich jedem Film der Gebrüder Dardenne bekannte Olivier Gourmet mit großer Zurückhaltung und Subtilität. Kaum etwas erfährt man über die Figuren, ihre Lebensumstände, ihre Arbeit und nicht zuletzt über die Ehe und ihr Scheitern. Nur in wenigen Momenten wird angedeutet, dass Frans einst Lisa und Jack verlassen hat, doch selbst Schuldgefühle kann man nur vermuten.
In viele Richtungen könnte solch eine Figurenkonstellation sich entwickeln, zur Versöhnung führen, zu Streit und Schuldzuweisungen mit dramatischem Finale. Doch nichts davon interessiert Marion Hänsel. Wie nur selten im Kino, auch im kleinen, unabhängigen Kino, sind die Figuren so normal, so lebensnah, wie das Ex-Paar im Zentrum von „Zärtlichkeit“. So normal ist das bisweilen, dass der Film immer wieder droht allzu beliebig zu werden, schließlich ist die Normalität, das Durchschnittliche aus nicht ganz unverständlichen Gründen nur selten ein Thema des Kinos. Doch dank ihres feinen Blicks und zweier starker Hauptdarsteller gelingt es Hänsel immer wieder diese Normalität zur Stärke zu machen, und das Besondere im Alltäglichen zu zeigen.
Fazit: Marion Hänsels „Zärtlichkeit“ verlangt viel Geduld und die Lust, sich einmal nicht von betont dramatischen Wendungen unterhalten zu lassen, sondern von präzise beobachteter und gespielter Normalität. Ein höchst ungewöhnlicher Film, der in seinen besten Momenten durchaus außergewöhnlich ist.