Die Anfrage „Der neue Woody Allen“ spuckt bei Google mehr als 37 mal so viele Treffer aus wie die Suche nach „Der neue Christopher Nolan“ – es gibt eben nur ganz wenige Regisseure (darunter zum Beispiel Quentin Tarantino), bei denen mit der Nennung ihres Namens eigentlich schon alles gesagt ist. Und selbst wenn solch herausragende Darstellerinnen wie Diane Keaton oder Penélope Cruz für Allen-Filme Oscars gewonnen haben, kommt wohl trotzdem kaum jemand auf die Idee, „Der Stadtneurotiker“ vornehmlich als Diane-Keaton-Film zu betrachten oder „Vicky Cristina Barcelona“ einen Penélope-Cruz-Film zu nennen – der neue Woody Allen bleibt nun mal der neue Woody Allen! Zumindest bis zu „Blue Jasmine“. In der Tragikomödie ist Cate Blanchett als plötzlich verarmte High-Society-Lady nun nicht einfach nur grandios, sie ragt aus dem durch die Bank starken Ensemble sogar so gewaltig hinaus, dass sie schlussendlich selbst ihren ansonsten alles überstrahlenden Regisseur in den Schatten stellt. Und so besteht bei „Blue Jasmine“ zum ersten Mal in Woody Allens langer Karriere die reelle Chance, dass das Publikum, wenn es sich in fünf Jahren an den Film erinnert, nicht in erster Linie von einem Woody-Allen-Film, sondern von einem Cate-Blanchett-Film sprechen wird!
Nachdem ihr Ehemann Hal (Alec Baldwin) wegen Investmentbetrugs verhaftet und das gesamte gemeinsame Vermögen beschlagnahmt wurde, muss Jasmine (Cate Blanchett) aus ihrem millionenteuren Appartement in der New Yorker Upper East Side ausziehen. Unterschlupf findet sie in der engen Mietwohnung ihrer Adoptivschwester Ginger (Sally Hawkins) in San Francisco, wohin die in Ungnade gefallene Upper-Class-Diva schon aus reiner Gewohnheit Erste Klasse fliegt! Am College hat Jasmine zwar früher Anthropologie studiert, aber richtig arbeiten musste sie noch nie. Ihr Versuch sich per Online-Kurs zur Innenarchitektin weiterzubilden, scheitert an ihren mangelhaften Computerkenntnissen und so verdingt sie sich notgedrungen zunächst einmal als Assistentin des in sie verschossenen Zahnarztes Dr. Flicker (Michael Stuhlbarg). Einen Silberstreifen am Horizont erkennt Jasmine erst, als sie bei einer Party den Diplomaten Dwight (Peter Sarsgaard) kennenlernt, der für politische Ämter kandidieren will und dafür die passende vorzeigbare Frau sucht…
Eng angelehnt an Tennessee Williams‘ Bühnen-Klassiker „Endstation Sehnsucht“, in dem die stolze Aristokratin Blanche DuBois nach dem Verlust des Familienvermögens zu ihrer Schwester ziehen und sich mit deren raubeinigem Arbeiter-Ehemann herumschlagen muss, präsentiert Woody Allen mit „Blue Jasmine“ zugleich das tragikomische Porträt einer verarmten Multimillionärin und in den Rückblenden eine scharf beobachtete Satire auf den Fall des betrügerischen Finanzjongleurs Bernie Madoff. Aber so clever der Filmemacher die verschiedenen Ebenen auch wieder einmal verwebt, soll trotzdem nicht länger von Allen die Rede sein - das eigentliche Ereignis ist diesmal schließlich die karrieredefinierende Performance von Cate Blanchett! Obwohl die Fisch-aus-dem-Wasser-Momente, in denen sich Jasmine wie ein aristokratisch-divenhafter Elefant im Porzellanladen der Normalverdiener aufführt, teilweise ebenso bitterböse wie zum Schreien komisch sind, lässt Blanchett („Elizabeth“, „Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels“) ihre ebenso komplexe wie kaputte Figur nie zur Karikatur verkommen. Vielmehr macht die australische Edelmimin Jasmines Verlorenheit und auch ihre Tragik in jedem Moment spürbar. Schon die Auftaktsequenz, in der die Luxus-Neurotikerin im Flugzeug einen Dauermonolog ohne Punkt und Komma hält, ist von schier hoffnungsloser Selbstbezogenheit: Jasmine ist alles andere als liebenswert und es ist es gar nicht so einfach, sie zu mögen, dennoch bleibt sie dank Blanchett immer menschlich und echt.
Nachdem Woody Allen zuletzt mit Vorliebe schwer romantisierende Europa-Ausflüge wie „Midnight in Paris“ oder „To Rome With Love“ absolviert hat, erinnert der hauptsächlich in San Francisco angesiedelte „Blue Jasmine“ an frühere, deutlich pessimistischere Klassiker des Regisseurs wie „Stardust Memories“ oder „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“. Genau wie Allen immer wieder geschickt eine tragischere Richtung einschlägt, wenn sich das Publikum in den amüsanten Szenen zu komfortabel einzurichten droht, so erstickt er auch jeden aufkeimenden Hoffnungsschimmer für die in die Welt der Normalsterblichen hinabsteigende Jasmine sofort wieder. Das Duo Allen/Blanchett zieht den Niedergang bis zur superzynischen, noch lange nachwirkenden letzten Szene mit einer radikalen Konsequenz durch, die im Hollywoodkino ihresgleichen sucht! Vor drei Jahren haben wir bereits im Oktober Colin Firth als definitiven Oscar-Gewinner für „The King’s Speech“ ausgerufen. Aber diesmal lehnen wir uns noch weiter aus dem Fenster und verkünden sogar schon im August: Cate Blanchett wird im kommenden März als Beste Hauptdarstellerin ihren zweiten Oscar (den ersten gab’s für ihre Nebenrolle als Katharine Hepburn in Martins Scorseses „Aviator“) mit nach Hause nehmen!
Neben der grandiosen Cate Blanchett nicht zu verblassen, erscheint fast wie ein Ding der Unmöglichkeit. Aber Woody Allen kann sich seine Schauspieler selbst für kleinere Nebenrollen schon seit Jahrzehnten frei aussuchen - und dabei beweist er auch diesmal wieder ein sicheres Händchen: Die Britin Sally Hawkins hält sich hier deutlich mehr zurück als etwa in ihrer Durchbruchsrolle als superoptimistische Poppy in Mike Leighs „Happy-Go-Lucky“, aber sie balanciert als Adoptivschwester, die mit Jasmines geradezu unfassbarer Weltfremdheit konfrontiert wird, ebenso sicher wie Bobby Cannavale („Boardwalk Empire“) als ihr Vorstadtmacho-Freund Chili auf dem schmalen Grat zwischen vorsichtigem Aufbegehren und schierer Verzweiflung. Weitere Prunkstücke sind die Darbietungen der beiden Kult-Stand-up-Comedians Louis C.K. („Louie“) und Andrew Dice Clay („Ford Fairlane“), die Allen hier zwar vollkommen gegen den Strich besetzt (nämlich als verführerischer Elektrotechniker Al und als Chilis Loserkumpel Augie), aber damit trotzdem genau ins Schwarze trifft. Nur Alec Baldwin spielt nicht gegen sein Image an, sondern verkörpert einmal mehr die Rolle des reichen, bestimmt auftretenden Geschäftsmannes, die er seit „30 Rock“ selbst im Schlaf überzeugend runterreißen kann – das ist gut, aber beim nächsten Mal darf gerne auch er ein wenig mehr riskieren.
Fazit: „Blue Jasmine“ ist ein einziges Schaufenster für Cate Blanchetts überragendes Talent – und Woody Allens bester Film seit „Match Point“!