Als „Sideways"-Regisseur Alexander Payne zum Interview mit FILMSTARTS zu „The Descendants" in ein Berliner Hotelzimmer stürmte, platzte es schon bei der Begrüßung halb genervt, halb ironisch aus dem Amerikaner heraus: „Wenn du mich danach fragen willst, was ich die vergangenen sieben Jahre gemacht habe, kannst du das bei den 500 anderen Interviewern nachlesen, die diese Frage vor dir gestellt haben." Rumms. Manchmal drängt sich ein Nachforschen derart auf, dass es schon aufdringlich wirkt. Ob Jonathan Dayton und Valerie Faris mit einer entsprechenden Frage ein Problem hätten, ist nicht bekannt, ein ähnliches Nachharken wäre aber durchaus berechtigt. Denn seit seinem furiosen Kinodebüt „Little Miss Sunshine" herrschte sechs lange Jahre Funkstille bei dem gefeierten Regieduo. Die Neugier auf die romantische Fantasy-Komödie „Ruby Sparks" hat das definitiv gesteigert, aber die hohen Erwartungen erfüllt der Film nicht. Immerhin besitzt das Werk einen spröden Charme und besticht mit einer cleveren Grundidee.
Mit 19 hatte der Jung-Schriftsteller Calvin Weir-Fields (Paul Dano) seinen Durchbruch mit einem Sensationserfolg. Doch eine Dekade später leidet der scheue Starautor, der zurückgezogen in Los Angeles lebt, an einer hartnäckigen Schreibblockade. Auch in Calvins Liebesleben herrscht tote Hose, er ist einfach zu schüchtern, Frauen anzusprechen. Er bekämpft seine diversen Hemmungen mit Hilfe des Psychiaters Dr. Rosenthal (Elliott Gould), dem es schließlich durch einen Kniff gelingt, Calvins Hirn Beine zu machen. Die Kreativität des Schriftstellers explodiert nun förmlich und er hämmert Seite um Seite in die Tasten seiner alten Olympia-Schreibmaschine. Als er seinem älteren Bruder Harry (Chris Messina) die ersten Ergüsse zeigt, ist der allerdings wenig begeistert. Und als die fiktive Hauptfigur des Romans, der unkonventionelle Wildfang Ruby Sparks (Zoe Kazan), plötzlich leibhaftig in Calvins Luxusvilla über den Hügeln Hollywoods auftaucht, glaubt Harry seinem kleinen Bruder natürlich kein Wort – bis er Ruby selber trifft. Calvin kann seine lebendig gewordene Schöpfung beliebig steuern, indem er ihr neue Zeilen auf den Leib schreibt und gibt Ruby fortan als seine neue Freundin aus. Doch bald entwickelt sie eigene Ideen ihrer Persönlichkeit, die bisher nur Calvins blühender Phantasie entstammte...
Die mit originellen Musikvideos und Werbespots bekannt gewordenen Filmemacher Jonathan Dayton und Valerie Faris bleiben ihrem Independent-Stil treu und setzen zumeist auf das intellektuelle Spiel mit den verschiedenen Realitätsebenen statt auf offensichtliche Schenkelklopfer, die der Stoff durchaus auch hergegeben hätte. So beginnt der Film als Charakterstudie mit einer präzisen Einführung des Schriftstellers Calvin, der von seinem in jungen Jahren erzielten Erfolg mit einem visionären Bestseller in der Hausnummerngröße von J. D. Salingers Meisterwerk „Der Fänger im Roggen" gehemmt wird. Mit dem Auftauchen Rubys ändert sich dann jedoch der Erzählton hin zur Fantasy-Romanze, die von Matthew Libatique („Black Swan", „Iron Man") in hübsch-stilvolle Bilder gehüllt wird. Dabei macht es zunächst großen Spaß, sich in den verschiedenen Erzählebenen zu orientieren und mitzuraten: Wo sind wir eigentlich gerade? Im Kopf Calvins? In einem Traum? In einer alternativen Realität? In der „Wirklichkeit"?
Die Idee, diese für Calvin absolut perfekte Frau zu schaffen und zum Leben zu erwecken, ist an Ovids „Metamorphosen" (Buch 10) angelehnt, wo Venus Mitleid mit Skulpturenkünstler Pygmalion hat und eine seiner Kunstfiguren lebendig werden lässt, damit sich ihr Erschaffer in sie verliebt. So abgehoben-kulturbeflissen wie sich die Ausgangslage anhören mag, wirkt die (Film-)Realität dann aber nicht. Vielmehr könnte Ruby eine ganz normale, wenn auch etwas launische Frauenfigur sein wie sie schon x-mal zu sehen war, wenn sie nicht so hoffnungslos der erzählerischen Willkür (der Filmemacher und Calvins) ausgesetzt wäre. Von einer Minute zur anderen ändert sie ihr gesamtes Auftreten, weil Calvin glaubt, die Kontrolle zu verlieren und immer verzweifeltere Maßnahmen ergreift, um sie zu halten – der Schöpfer kämpft gegen seine Kreatur. Je mehr das Fantasy-Element der Geschichte durchscheint, desto sprunghafter wird das Geschehen, die Handlung schlägt einen Zickzackkurs ein, dem mitunter nur mühsam zu folgen ist.
Ruby Sparks mutiert durch die angesprochenen Kamikaze-Charakterwendungen allmählich zur kleinen Nervensäge, obwohl sie das Publikum doch zu Beginn schon lieb gewonnen hatte. Dabei hat sich Theater- und Kinoschauspielerin Zoe Kazan (Enkelin von Autorenfilmer Elia Kazan und Tochter von Drehbuchautor Nicholas Kazan) die Rolle in ihrem Debüt-Drehbuch selbst auf die schmalen Schultern geschrieben. Und trotz aller intellektuellen Anspielungen gibt es auch locker-leichte Komik und herzhafte Lacher – was nicht zuletzt eine amüsante kurze Episode mit Antonio Banderas („Desperado") und Annette Bening („American Beauty") als Calvins durchgeknallte Eltern dokumentiert, die fast aus einer Boulevard-Komödie stammen könnte und hier ein wenig aus dem Rahmen fällt. Banderas und Bening lassen die Focker-Eltern Dustin Hoffman und Barbra Streisand in „Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich" und „Meine Frau, unsere Kinder und ich" wie blasse Spießer aus der Vorstadt aussehen.
Neben Antonio Banderas und Annette Bening gibt auch Veteran Elliott Gould („M*A*S*H") als Dr. Rosenthal eine ebenso skurrile, aber subtilere Visitenkarte ab. Die Nebenfiguren sorgen so immerhin für einige nette Akzente, aber „Ruby Sparks" lebt in erster Linie von den guten Hauptdarstellern. Der vielseitige Paul Dano („There Will Be Blood", „Little Miss Sunshine") ist eine feine Besetzung für den grüblerischen Schriftsteller Calvin. Der New Yorker bewahrt die Figur davor, aus der Balance zu kippen und verkörpert den jungen Intellektuellen stets glaubhaft und einnehmend. Zoe Kazans Auftreten wiederum ist von einer erfrischenden Natürlichkeit, die Ruby trotz aller Sprunghaftigkeit immer erhalten bleibt. Es ist der Jungdarstellerin zu verdanken, dass der Kampf Charmewesen gegen Nervbolzen für die Titelheldin letztendlich knapp zugunsten der Sympathieträgerin ausgeht und somit auch der Film unterhaltsam bleibt.
Fazit: Ist es eigentlich Inzest, wenn man mit seiner eigenen, zur Realität gewordenen Romanfigur schläft? Diese Frage beantworten die Regisseure Jonathan Dayton und Valerie Faris in ihrer Fantasy-Romanze „Ruby Sparks" zwar nicht, aber mit einigen Finessen und Klugheit reizen sie die Prämisse unterhaltsam aus – nur der letzte Funken Magie fehlt.