Als „Kinokomödie“ wird der aktuelle, auf den Filmfestspielen in Venedig 2014 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Film des Schweden Roy Andersson beworben. Diese Genrebezeichnung ist nicht falsch, aber zumindest ein wenig irreführend, auch wenn im Film allerlei Blödsinn vorkommt, über den man durchaus mal grinsen kann. Der ist jedoch keineswegs klassisch komödiantischen, sondern vielmehr absurden Charakters und somit von außen vielleicht mitunter lachhaft, in seinem Kern jedoch existenzphilosophisch. Mit „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ schließt Andersson eine filmische Trilogie ab, in der er sich mit dem Wesen des menschlichen Lebens und Sterbens beschäftigt. Den Auftakt bildete im Jahr 2000 „Songs from the Second Floor“, der zweite Teil kam 2007 unter dem Titel „Das jüngste Gewitter“ in deutsche Kinos. Ein herausgehobenes gestalterisches Merkmal aller drei Filme sind die langen, starren und präzisen Einstellungen: tableauartige Bildkompositionen, deren deutliche visuelle Begrenzungen auf die Beschränkungen des menschlichen Handlungsspielraums verweisen. So ist nun auch „Eine Taube...“ exquisite Kinokunst, bei der Form und Inhalt perfekt verschmelzen.
Eine fortlaufende Handlung im herkömmlichen Sinne bietet Roy Andersson auch dieses Mal nicht, wohl aber verschiedene Stränge von zusammenhängenden Ereignissen. Zusammengehalten wird die Szenenfolge durch die wiederholten Auftritte eines Männerpaars: Jonathan (Holger Andersson) und Sam (Nils Westblom) sind Vertreter für Scherzartikel. „Wir wollen den Menschen helfen, Spaß zu haben“, erklären die Handlungsreisenden und sind dabei doch selbst von tiefer Traurigkeit durchdrungen. Und auch die Menschen in den Nebenepisoden sind sämtlich in einer hoffnungslosen existenziellen Einsamkeit gefangen: Die Flamencolehrerin (Lotti Törnros), die ihre Leidenschaft allein im Tanz ausleben kann und sonst ungeliebt bleiben muss. Der ältere Mann (Jonas Gerholm), der gern mal von jemandem angerufen werden würde und langweilige Geschichten über sein ereignisloses Leben erzählt. Die schmucke, aber hinkende Gastwirtin (Charlotta Larsson), die ihre Schnäpse an junge Männer für einen Kuss verkauft. Und der in Schweden als Held verehrte König Karl XII. (Viktor Gyllenberg) kommt mit seinem Heer auf Russlandfeldzug als eine Art Zeitreisender an einer so billigen wie heutigen Kneipe vorbeigezogen.
Auch wenn „Eine Taube sitzt auf einem Zweig...“ weniger als Komödie im engeren Sinn bezeichnet werden kann, sind Lachen, Spaß und Unterhaltung wichtige Fluchtpunkte in Anderssons Entwurf. Die von des Regisseurs eigener kindlicher Erfahrung mit Stan Laurel und Oliver Hardy inspirierten Protagonisten sind nicht zufällig im Scherzartikel-Business. Ihr Bemühen, mit den Vampirzähnen („Standard und mit extra großen Fangzähnen“), Lachsäcken und gruselig-komischen Gesichtsmasken der Marke „Onkel Einzahn“ aus ihrem Angebot für Zerstreuung zu sorgen, wirkt allerdings aussichtslos: Hier kann auch ein ganzer Koffer voller Lachsäcke nicht mehr helfen, vielmehr summieren sich kleine Dramen zur großen tragischen Farce der menschlichen Existenz. Selbst der vermeintliche Heldenkönig ist bei Andersson am Ende nur ein armes Würstchen: Auf dem Hinweg organisiert sich der Monarch in der Kneipe noch ganz in Feldherrenmanier einen Tresenknaben für sein Feldlager. Als er aber später schwerverletzt aus dem Krieg zurückkehrt, kann er in derselben Spelunke nicht einmal aufs Klo, weil es gerade besetzt ist...
Roy Andersson ist 1943 geboren worden, aber „Eine Taube sitzt auf einem Zweig…“ ist erst sein fünfter langer Spielfilm. Als 26-Jähriger hatte er mit „Eine schwedische Liebesgeschichte“ ein sehr erfolgreiches Debüt vorgelegt, das später in einer Kritiker-Umfrage zum viertbesten schwedischen Film des 20. Jahrhunderts gewählt wurde (auf dem 10. Platz dieser Liste steht „Songs from the Second Floor“). Anderssons zweiter Spielfilm dagegen floppte, und der Regisseur entschied sich, vorerst nur noch Werbefilme zu machen – eine Disziplin, in der er über die Jahrzehnte zahlreiche internationale Preise einheimste. Das Drehen von Werbespots habe ihn gelehrt, Bilder „aufzuräumen“, erklärte er einmal in einem Interview. Und tatsächlich wirkt jedes von Anderssons filmischen Tableaus wie ein eigenständiges Kunstwerk, in dem jedem noch so winzigen Detail eine ganz bestimmte Bedeutung zukommt. Gemeinsam ist all diesen Einstellungen die radikal reduzierte Farbpalette. Aus einem braun-grauen Gesamteindruck schaffen es nur wenige leuchtende Details an die Oberfläche der Wahrnehmung: die rotgemalten Lippen der Damen etwa oder die blauen Uniformen von Karl XII. und seinen Soldaten. Es sind sinnlos wirkende Signale von Lebenswillen in einer Welt des stumpfen Aneinander-Leidens. Doch dann gönnt Andersson uns abschließend einen gänzlich unspektakulären, doch um so nachhaltigeren Trost und zeigt uns, worin wahre menschliche Größe liegt: Man muss sich auch mal entschuldigen können, wenn man doof gewesen ist. Dann wird einem vergeben werden.
Fazit: Aus exquisiten „lebenden Bildern“ zusammengesetztes filmisches Kunstwerk von erlesen absurdem Humor und großer existenzieller Traurigkeit.