Nach seinem legendären Auftritt als labiler Private Paula in Stanley Kubricks „Full Metal Jacket" konnte sich der US-Amerikaner Vincent D'Onofrio über attraktive Rollenangebote nicht beklagen. Auffallend oft entschied sich der gebürtige New Yorker dabei für Psychopathen oder Bösewichte, lieferte sich zum Beispiel als Edgar die Schabe ein actionreiches Duell mit den „Men In Black" und verkörperte den perversen Serienkiller Carl Rudolph Stargher in Tarsem Singhs Sci-Fi-Thriller „The Cell". Warum? Er entscheide sich für die Dinge, die ihm selbst am meisten Angst machen, gab der Schauspieler im Vorfeld des Fantasy Filmfests 2012 zu Protokoll. Da kommt es nicht von ungefähr, dass D'Onofrio ohne Zögern die Hauptrolle eines psychopathischen Taxifahrers in „Chained" annahm. Der Horrorthriller von Jennifer Chambers Lynch ist ein stark inszenierter, brutaler Schocker mit einer beklemmenden Kammerspielatmosphäre, der den Zuschauer noch lange nach Filmende beschäftigt.
Nach einem gemeinsamen Kinobesuch setzen sich der kleine Tim (als Neunjähriger: Evan Bird, als Jugendlicher: Eamon Farren) und seine Mutter (Julia Ormond) in ein Taxi – nicht ahnend, dass dies ihre letzte gemeinsame Autofahrt sein wird. Der Fahrer Bob (Vincent D'Onofrio) verschleppt die beiden Passagiere in sein abgelegenes Haus, wo der Junge machtlos mitansehen muss, wie der Psychopath seine Mutter abschlachtet. Tim hingegen wird verschont, der Killer kettet ihn in seiner Küche an und missbraucht ihn fortan als Komplizen bei der Verwirklichung seiner düsteren Fantasien. Für Tim folgen Jahre voller Angst und Gewalt an der Seite seines „Mentors": Immer wenn Bob ein neues Opfer mit nach Hause bringt und massakriert, muss der Junge die blutigen Überreste im Keller vergraben...
Ihr skandalumwitterter Debütfilm „Boxing Helena", für den sie 1993 mit einer Goldenen Himbeere abgestraft wurde, begründete Jennifer Chambers Lynchs Ruf als umstrittene Filmemacherin. Die Aufregung, die vor allem einer Millionenklage gegen die kurz vor Drehbeginn abgesprungene Kim Basinger zu verdanken war, führte zu einer fünfzehnjährigen Leinwandpause der Regisseurin, die erst 2008 mit dem doppelbödigen Roadmovie-Thriller „Unter Kontrolle" beendet wurde. Die großen Fußstapfen ihres berühmten Vaters David Lynch konnte die Filmemacherin in den Augen vieler Kritiker freilich weder mit dem einen noch mit dem anderen Werk ausfüllen. Im Falle von „Chained" ist das nun ganz anders und das, obwohl sich Lynch mit Drehbuchautor Damian O'Donnell einen absoluten Neuling ins Boot geholt hat.
„Chained" ist ein klaustrophobisches, brutal-explizites Kammerspiel, kaum einmal werden Küche und Wohnzimmer des kilometerweit abgelegenen Landhauses, in dem Bob lebt, verlassen. Die lakonische Routine des Missetäters verstört dabei nicht nur den bedauernswerten Haussklaven Tim, sondern vor allem auch den Zuschauer. Wie minderwertiges Schlachtvieh schleift der Taxifahrer junge Schönheiten ins Haus, wirft sie achtlos auf den Fußboden, zerrt sie ins Schlafzimmer, wo er sich wie ein wildes Tier an ihnen vergeht und die zerfetzten Körper zum Aufwischen liegen lässt. Angst vor der Polizei scheint der Hüne nicht zu kennen, eine mögliche Flucht seines angeketteten Dieners nicht zu befürchten: In aller Seelenruhe sichtet der Killer Zeitungsausschnitte und schaut sich nach einer üppigen Mahlzeit Kochsendungen im Fernsehen an, während er dem ausgehungerten Tim gnädig einen Schokoriegel hinwirft als wäre es ein Hundeknochen.
Vordergründig passiert in der ersten Stunde des Films nicht viel: Tims einziger Fluchtversuch findet ein schnelles Ende und hat schmerzhafte Folgen, von den zahlreichen weiblichen Opfern und dem Rest der Außenwelt hat der Junge keine Hilfe zu erwarten. Dennoch entwickelt „Chained" eine ungemein fesselnde Intensität, weil sich ein Großteil der Spannung aus dem ungewöhnlichen Verhältnis des Entführungsopfers zu seinem Peiniger ergibt: Bob zwingt den Heranwachsenden zur akribischen Lektüre eines Anatomielehrbuchs und bereitet seinen Schützling damit konsequent darauf vor, seinen blutigen Taten nachzueifern und irgendwann einmal in seine Fußstapfen zu treten. Newcomer Eamon Farren („Exit – A Night From Hell"), bis dato vorwiegend in kleineren TV-Produktionen und Kurzfilmen zu sehen, entpuppt sich dabei als großartige Neuentdeckung und echter Glücksgriff: Er spielt den verstörten Tim irgendwo auf dem schmalen Grat zwischen Stockholm-Syndrom und finsteren Racheplänen und vermittelt die innere Zerrissenheit des blassen, ausgemergelten Teenagers mit atemberaubender Intensität.
Vincent D'Onofrio steht Farrens starker Darstellung in nichts nach, nimmt sich in aber merklich zurück und verleiht dem brutalen Frauenmörder damit ein erschreckend bedrohliches Profil. Brenzlig wird es für Bob erst, als er seinem erwachsengewordenen Sklaven mit der hübschen Angie (Conor Leslie) das erste eigene Opfer ins Haus holt und von seinem Zögling erwartet, es ihm gleichzutun. Wie sich das packend inszenierte, zugleich aber rührende Aufeinandertreffen zwischen der um ihr Leben bettelnden Angie und dem hin- und her gerissenen Tim entwickelt, soll an dieser Stelle nicht verraten werden – die Szene im Schlafzimmer bildet aber den Auftakt zu einem fulminanten Showdown, bei dem sich Lynch gleich zwei Trümpfe für die Schlussminuten aufspart. Wer beim Abspann vorschnell den Saal verlässt, dürfte übrigens strafende Blicke von den übrigen Kinozuschauern ernten – es gibt noch viel zu entdecken, besser gesagt: zu hören.
Fazit: Jennifer Chambers Lynch macht ihr schwaches Erstlingswerk „Boxing Helena" und den müden Thriller „Unter Kontrolle" vergessen und liefert mit „Chained" eine tiefdüstere, packend inszenierte und verstörende Schauermär über einen brutalen Frauenmörder ab.