„Ins Blaue", das ist nicht nur ein schöner und dabei sprechender Titel für Rudolf Thomes neuesten, mittlerweile schon 28. Film, eine eigenwillige Tragikomödie über die Dreharbeiten zu einem Film namens „Ins Blaue". Diese Redewendung könnte schließlich auch ohne weiteres als Motto über seinem gesamten Oeuvre stehen. Es gehört ein besonderer Mut dazu, als Filmemacher von Produktion zu Produktion ganz neu anzufangen, und den hat Rudolf Thome in den vergangenen 45 Jahren wieder und wieder bewiesen. Jeder seiner Filme ist auf die eine oder andere Art ein Neubeginn, natürlich nicht bei Null, das wäre weder möglich noch sinnvoll. Schließlich hinterlässt jede Arbeit ihre Spuren. Das Vergangene wird immer ein Teil des noch Kommenden sein. Aber Rudolf Thome („Rote Sonne", „Das rote Zimmer") ist eben nie stehengeblieben. Bei allem, was seine Werke untereinander verbindet, bei allen wiederkehrenden Motiven und Situationen, war jeder seiner Filme doch immer auch eine Reise ins Blaue, für ihn selbst wie auch für sein Publikum.
Die junge Filmemacherin Nike Rabenthal (Alice Dwyer) träumt vom Kino des 21. Jahrhunderts, einem Kino, das ganz nah dran ist an der Gegenwart und dabei die Traditionen der französischen Nouvelle Vague fortführt. Also ist sie für ihren ersten langen Film gemeinsam mit ihrem Ensemble, ihrem Team und ihrem Vater Abraham (Vadim Glowna), der selbst ein anerkannter Regisseur ist und nun den Erstling seiner Tochter produziert, zu einer Reise ins Blaue aufgebrochen. Ein ausgearbeitetes Drehbuch gibt es nicht, auch keine vorher festgelegten Dialoge. Alles, was ihre drei Hauptdarstellerinnen Eva (Esther Zimmering), Josephine (Janina Rudenska) und Laura (Elisabeth-Marie Leistikow) bekommen haben, sind ein paar von Nike skizzierte Szenen und eine ungefähre Route für ihre Reise in Italien, während der ihre Figuren einem Mönch, einem stummen Fischer und einem einsamen Philosophen begegnen. Der Rest ist Improvisation.
„Alles fließt." Dieser auf den griechischen Philosophen Heraklit zurückgeführte Satz hat es Nikes Filmfigur Herbert Wittgenstein (ebenfalls Vadim Glowna) besonders angetan. Laura verrät der von Thome erfundene Sohn des berühmten Ludwig Wittgenstein, dass sich die ganze Bedeutung dieser zwei Worte einem einzelnen Menschen wohl nie erschließen wird. Dafür reicht ein Leben nicht aus. Davon ist der Philosoph mit dem großen Namen, der wie ein Eremit in seiner weißen Villa über dem Meer lebt, fest überzeugt. Aber, und das könnte durchaus Rudolf Thomes Antwort auf Wittgensteins Eingeständnis sein, ein einzelner Film kann diesen Satz in all seinen Facetten ausloten und zugleich ein Gefühl für die Wahrheit in ihm vermitteln.
Alles fließt in „Ins Blaue". Das liegt natürlich schon im Wesen des Kinos. Die Bilder, die sich über die Leinwand ergießen, gleichen nun einmal einem Strom, der vor den Augen des Publikums entlang fließt. Aus diesen technischen Gegebenheiten erwächst zwangsläufig eine philosophische Dimension, die Rudolf Thome seit seinen Anfängen im München der 60er Jahre immer mitgedacht hat. Alle seine Arbeiten sind Studien einer Welt, die im Fluss ist, in der sich immer alles verändert. Aber so radikal wie bei seinem 28. Film ist er Heraklits Worten noch nie gefolgt.
Alles fließt: Die Geschichte der Dreharbeiten genauso wie die Geschehnisse um die drei Frauen auf ihrer Reise; und alles fließt dabei ineinander. Die Bilder des Films im Film sind etwas wärmer, etwas intensiver in den Farben als die der Rahmenhandlung. Die Kamera bewegt sich ein wenig mehr und zoomt gelegentlich sogar. Aber die beiden Strömungen finden zusammen zu einem Fluss. Kunst und Leben lassen sich nicht trennen. Das eine ist Hoffnung und Sehnsucht, das andere, die Realität, ist ein fortwährendes Ringen mit Rückschlägen und Enttäuschungen. Und auch die Inspirationsquellen vereinen sich zu einem Fluss.
Nikes Film beschwört die Macht des Kinos und die Freiheit des Augenblicks. Jede Szene hat etwas von einem Traum, die Reise in Italien wird zum magischen Trip durch eine Landschaft, in der Wunder wahr werden können und die Liebe überall wartet. Er stellt der Wirklichkeit, dem Dreh, der alles andere als magisch ist, der geprägt wird von den Schwächen und Fehltritten der Beteiligten, einen Gegenentwurf zur Seite und erzeugt dabei eine wundervolle Wechselwirkung. Thomes Liebe zum Kino ist in „Ins Blaue" vielleicht noch tiefer und stärker eingeschrieben als in alle seine anderen Werke. Aber sie macht ihn keineswegs blind, im Gegenteil unsentimentaler und härter als hier kann ein Filmemacher kaum von sich und seiner Leidenschaft erzählen.
In Nike und ihrem Vater Abraham liegt auch ein verzerrtes Selbstporträt Rudolf Thomes, dessen Tochter Joya ebenfalls Filme dreht. Thome gibt sich keinerlei Illusionen über Künstler hin. Sie sind zwar größere und mutigere Träumer, aber eben keine besseren Menschen. Abraham und Nike laden im Lauf der Dreharbeiten Schuld auf sich und müssen damit leben. Alice Dwyer („Baby", „Lichter") und Vadim Glowna („Steiner - Das Eiserne Kreuz"), der in einer seiner letzten Rollen noch einmal alle Register zieht, gewinnen dabei gerade den Schattenseiten ihrer Figuren ungeahnte Facetten ab. Ihre letzte Begegnung am Strand ist ein überwältigender Augenblick voller Tragik und Trauer. Aber selbst dieser Zustand der Zerstörung ist eben nur eine Momentaufnahme. Alles fließt weiter... wohin, das überlässt Rudolf Thome der Imagination des Betrachters.
Fazit: In Rudolf Thomes „Ins Blaue" kommen die Einflüsse des modernen Klassikers Roberto Rossellini („Stromboli") und des koreanischen Zeitgenossen Hong Sang-soo („In Another Country") auf eine wahrhaft berauschende Weise zusammen. Die Vergangenheit und die Gegenwart der Filmkunst werden eins und versprechen eine grandiose Zukunft. So könnte tatsächlich das Kino des 21. Jahrhunderts aussehen.