Zu ihren Lebzeiten galt sie als mächtigste Frau der Welt und ihre Taten wirken weit über ihren Tod hinaus. Welch bittere Ironie ist es da, dass ausgerechnet die britische Archäologin, Historikerin, Schriftstellerin, Alpinistin, politische Beraterin und Spionin Gertrude Bell (1868 - 1926) mit einer ihrer wenigen Fehleinschätzungen einen guten Teil des Zündstoffs für das heutige Pulverfass im Nahen Osten lieferte. Indem sie als Vertraute von Stammesfürsten und Königen bei der territorialen Neuordnung der Region nach dem Ersten Weltkrieg die Interessen der von ihr unterschätzen Schiiten verletzte, provozierte sie unfreiwillig Begehrlichkeiten, die auch in der Gegenwart noch für Ärger, Chaos und Krieg sorgen. Arthouse-Legende Werner Herzog („Aguirre, der Zorn Gottes“) setzt dieser starken Persönlichkeit in seinem 2015er Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Königin der Wüste“ nun ein filmisches Denkmal, wobei ihn das schwierige politische Erbe seiner Protagonistin nur in zweiter Linie interessiert. Vielmehr ist das bildgewaltige Historien-Drama eine weitere Charakterstudie einer außergewöhnlichen Persönlichkeit: ein Gemälde in Bewegung mit ganz eigenem Ton und Rhythmus sowie einem Schuss Wahnsinn – ein typischer Herzog eben.
Im Jahr 1902 zieht es Gertrude Bell (Nicole Kidman), Tochter aus sehr wohlhabendem englischem Hause, in die Welt hinaus. Sie reist nach Teheran, um bei ihrem Onkel Frank (Mark Lewis Jones) und ihrer Tante (Beth Goddard) in der britischen Botschaft zu wohnen. Alsbald verliebt sie sich in den spielsüchtigen und mittellosen Botschaftssekretär Henry Cadogan (James Franco), doch ihr Vater Hugh (David Calder) verweigert der Heirat seine Zustimmung. Gertrude kehrt nach London zurück, Henry nimmt sich aus Gram das Leben. Die ehrgeizige und wissbegierige junge Frau beschließt schließlich, wieder in den Nahen Osten zu reisen, um Menschen, Sitten und Gebräuche kennenzulernen. Sie etabliert sich als Archäologin und Forscherin und wird zur führenden westlichen Expertin für die Region. Auch verliebt sie sich wieder, doch Major Charles Doughty-Wylie (Damian Lewis) ist verheiratet und es entwickelt sich eine entsprechend komplizierte Beziehung. Als die Befehlshaber der britischen Kolonialmacht 1914 nach den Pfründen gieren, die beim Untergang des zerfallenden Osmanischen Reichs zu ernten sind, ist die inzwischen ebenso berühmte wie berüchtigte Bell eine wichtige Ratgeberin und Vermittlerin.
Arthouse-Star Werner Herzog inszeniert die ikonische Britin Gertrude Bell als eine Art weiblichen „Lawrence von Arabien“. In „Königin der Wüste“ sind die Parallelen zwischen T.E. Lawrence (kauzig gespielt von „Twilight“-Star Robert Pattinson) und Bell jedenfalls unübersehbar: Sie teilen beide eine ähnliche Weltsicht, sind wesentlich smarter als der gesamte britische Militärapparat und doch hört man nur sehr ungern auf sie. Ungleich größer ist die Wertschätzung für Bell in der Welt des Nahen Ostens. Mit Charme, aufrichtiger Liebe zu den arabischen und osmanischen Völkern und einem großen Verständnis für deren Kulturen hat sie die Herzen von Königen, Emiren und sonstigen Herrschern erobert. Sie ist hochintelligent und mutig, wenn es notwendig ist, auch listig und verschlagen und vor allem behauptet sie sich in elitären, von Männern dominierten Zirkeln. Werner Herzog betont in seinem Charakterporträt das Außergewöhnliche dieser Frau, die historischen und politischen Umstände liefern dabei das Spielfeld für die clevere Diplomatin und raffinierte Strippenzieherin: Wie so viele Figuren im Werk des Ausnahmeregisseurs (und als erste Frau) versucht sie der Welt ihren Willen aufzuzwingen.
Der Regisseur folgt konsequent den Wegen dieser getriebenen Persönlichkeit, was sich auch in der ungewöhnlichen Dramaturgie des Films niederschlägt. So verwendet Herzog fast die gesamte erste Hälfte darauf, zu zeigen, warum Gertrude Bell schließlich zur Königsmacherin wird. Eine zentrale Rolle spielt dabei ihre tragische Liebe zum kleinen Botschaftssekretär Cadogan. Diese wichtige Episode inszeniert der Filmemacher mit Ironie und Witz, aber auch als leidenschaftliches und durchaus pathetisches Liebesdrama, unter dessen Fassade immer eine gefährliche Unberechenbarkeit schlummert. Mit James Franco („Spring Breakers“, „Spider-Man“) hat Herzog genau den richtigen Schauspieler, um diese Doppelbödigkeit anzudeuten. Der auf der Berlinale 2015 gleich mit drei Werken vertretene Vielfilmer Franco spielt seinen schwer verliebten Gentleman-Zocker mit unterkühltem Overacting, das von ferne an Herzogs alten Spezi Klaus Kinski denken lässt. Nach dem unglücklichen Ende dieser Liebesgeschichte verändert sich Gertrude Bell und mit ihr der Film. Nicole Kidman („Eyes Wide Shut“, „Moulin Rouge“) übernimmt nun das Kommando und drückt dem Werk mit großem Selbstbewusstsein immer stärker ihren Stempel auf.
Kidman glänzt als zielstrebige und kluge Frau, die genau weiß, wann sie Grenzen überschreiten muss, um ihre Ziele zu erreichen. Dazu strahlt sie Schönheit und Grazie aus, ihrem Charme erliegen fast alle – nur bei den von ihrer weiblichen Durchsetzungsfähigkeit pikierten Briten hat sie es schwer. Die erscheinen dann auch oft als rückwärtsgewandte Karikaturen, für die Visionäre wie Bell und Herzog kein Verständnis haben, während die Natur in ihrer Unerschütterlichkeit ein weiteres Mal einen Fluchtpunkt und eine Herausforderung markiert. Herzogs österreichischer Stammkameramann Peter Zeitlinger („Rescue Dawn“, „Begegnungen am Ende der Welt“) macht „Königin der Wüste“ zu einer betörenden Ode, zu der auch Kidmans elegischer Off-Kommentar und das meist eher gemächliche Erzähltempo bestens passen. Dabei prallen wunderschöne Aufnahmen des herrschaftlichen, nebelverhangenen und morgentaudurchtränkten England auf abenteuerliche, heiß-staubige Wüstenästhetik: Bildkompositionen voller Pracht und Poesie. Dazu dürfen auch die für Herzog typischen Seitenblicke in die Tierwelt nicht fehlen (dieses Mal mit durstigen Kamelen und einer Beinahe-Kuss-Szene unter den Augen eines gierigen Geiers).
Fazit: Werner Herzog bedient in „Königin der Wüste“ eines der drei von Dieter Kosslick ausgerufenen Berlinale-Mottos 2015 perfekt: „Starke Frauen in extremen Situationen“. Sein Porträt der „Wüstenkönigin“ Gertrude Bell ist ein verspielt-eigenwilliges Historien-Drama mit einer beeindruckenden Protagonistin und herausragenden epischen Bildern.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2015. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 65. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.