Der zweifache Oscar-Preisträger Alexander Payne („The Descendants“, „Sideways“) ist einer der feinfühligsten Familienchronisten des US-amerikanischen Independent-Kinos. Da passt es gut ins Bild, wenn mehr als 15 Jahre nachdem die „Jurassic Park“-Heldin Laura Dern in Paynes Kino-Debüt „Baby Business“ auftrat, nun deren Vater Bruce im jüngsten Werk des Regisseurs eine Hauptrolle übernimmt. Der Filmemacher schreibt so auch an der Chronik der bekannten Schauspielerfamilie mit und verhilft ihr zu einem Erfolgskapitel, denn für seinen Part in Paynes Tragikomödie „Nebraska“ wurde Veteran Bruce Dern („Lautlos im Weltraum“, „Django Unchained“) bei den Filmfestspielen von Cannes 2013 als bester Darsteller ausgezeichnet. Der in ausdrucksstarkem Schwarz-Weiß gedrehte „Nebraska“ ist eine kleine, aber feine Familiengeschichte, in der Payne wieder einmal sein Gespür für die besonderen Befindlichkeiten im tiefen Herzen der US-Provinz zeigt und die perfekte Balance zwischen leiser Komik, bittersüßer Melancholie und rauer Hinterland-Wirklichkeit findet.
Der leicht demenzkranke Woody Grant (Bruce Dern) grantelt in seinem Haus in Billings, Montana in den Tag hinein. Trotz seiner Krankheit trinkt er immer noch zu viel - nicht mehr so exzessiv wie früher, aber genug, um seine garstige Gattin Kate (June Squibb) zu ärgern und seine beiden Söhne David (Will Forte) und Ross (Bob Odenkirk) ständig an seine unrühmliche Säufer-Vergangenheit und die Wunden, die sie hinterlassen hat, zu erinnern. Ein guter Vater war Woody nie und während David durchaus versöhnlich eingestellt ist, weigert sich der verbitterte Ross, seinen Frieden mit dem alten Herrn zu machen. Als ihm ein vermeintliches Lotterielos ins Haus flattert, glaubt Woody an einen Millionengewinn und will sich persönlich auf den Weg nach Lincoln, Nebraska machen, um das Geld abzuholen. Natürlich weiß David, dass es sich um ein betrügerisches Werbeprospekt handelt und sein Dad garantiert keine Million kassieren wird, aber er willigt trotzdem ein, sich mit Woody auf die 900 Meilen lange Reise zu begeben. Unterwegs stoppen Vater und Sohn in Woodys Geburtsstadt Hawthorne in Nebraska, wo sie auf Verwandtschaft und alte Freunde treffen. Schnell macht sich in dem Provinzkaff der Neid auf den Millionengewinner breit.
Das Ziel der Vater-Sohn-Reise, die Stadt Lincoln, liegt nur 50 Meilen von Alexander Paynes Geburtsort Omaha entfernt. Der Filmemacher dreht mit „Nebraska“ auf diesem ihm ganz besonders vertrauten Terrain eine wehmütige Kino-Ballade über das (aus)sterbende „Small Town America“ seiner Heimat und es ist sicher kein Zufall, dass Paynes Film den gleichen Titel trägt wie eines von Bruce Springsteens bekanntesten und besten Alben – beide Werke sind durch eine berührende erzählerische Klarheit geprägt und von einer tiefen Melancholie durchzogen. So sind die Schwarz-Weiß-Bilder von Phedon Papamichael („The Descendants“, „Todeszug nach Yuma“) ganz wie die Landschaft des amerikanischen Mittelwestens, die sie zeigen: rau, manchmal sogar abweisend und dabei doch bei genauerem Hinsehen von betörender Schönheit. Ähnlich verhält es sich auch mit Paynes Geschichte, deren Grundtonart Bitternis ist, denn trotz des allgegenwärtigen Verfalls und der damit einhergehenden tiefen Desillusionierung gibt es immer wieder versöhnliche und warmherzige Momente. Und so ist der knorrige Woody dann auch keineswegs ein Tyrann, obwohl es nicht leicht fällt, ihn zu mögen. Vielmehr lechzt der alte Kauz, der nicht einmal wirklich hinter dem großen Geld her ist, einfach nur nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Respekt – oder besser: nach etwas, wofür es sich lohnt, weiterzuleben. Seine fixe Idee wird der eigene Pick-Up-Truck, ein uramerikanisches Status- und Freiheitssymbol.
Bei einem Budget von nur 13 Millionen Dollar hält sich das wirtschaftliche Risiko in Grenzen und so ist Indie-Hit-Lieferant Payne nicht auf kassenträchtige Stars vom Kaliber eines George Clooney („The Descendants“) oder Jack Nicholson („About Schmidt“) angewiesen. Obwohl es schade ist, dass Paynes ursprünglicher Plan, den seit 2004 im Ruhestand befindlichen Gene Hackman („French Connection“, „Erbarmungslos“) zu reaktivieren, am Unwillen des hofierten Oscar-Preisträgers scheiterte, ist die Besetzung der zentralen Rolle des Grantlers Woody mit Bruce Dern ein Glücksfall. Mit ausdruckslosem Gesicht eigenbrötlert sich Dern brillant durch den Film, strapaziert Geduldsfäden und verletzt ungewollt Gefühle, aber in lichten Augenblicken hat der alte Mann auch immer wieder den Schalk im Nacken. Daneben verkörpert Will Forte („MacGruber“, „The Watch“) als Woodys Sohn David den gutherzigen, aber keinesfalls naiven Durchschnittstypen: Er ist ebenfalls genervt, gibt sich jedoch Mühe, wieder engeren Kontakt zu finden und seinem Vater etwas Lebensfreude zu verschaffen. Aus der Schar der Nebendarsteller ragt Stacy Keach („Mike Hammer“, „American History X“) als Woodys früherer Freund und Geschäftspartner Ed Pegram heraus, dessen anfängliche Begeisterung über das Wiedersehen sich langsam in niederträchtige Gier verwandelt, als er von dem angeblichen Millionengewinn erfährt. Keach macht die Abgründe, die sich hier auftun, subtil sichtbar – in allen Etappen bis zur offenen Eskalation.
Ed Pegram ist nur der rücksichtsloseste unter den alten Freunden und den aus den Augen verlorenen Verwandten, Bekannten und Nachbarn - der Neid auf Woodys unverhofften Reichtum kennt im verschlafenen Hawthorne keine Grenzen. So gut wie niemand gönnt ihm sein Glück wirklich und in diesem Reigen der Missgunst wirken die Provinzler ein wenig zu dumm, zu dumpf und zu dreist: Hier tauscht Payne den feinen Pinsel des einfühlsamen Chronisten vorübergehend gegen den groben Quast des entlarvenden Satirikers ein. Seinem (Anti-)Helden Woody begegnet der Regisseur dagegen immer mit Sympathie und Verständnis. Anstatt ihn etwa als naiven Trottel zu denunzieren, hält Payne es angenehm offen, ob Woody tatsächlich glaubt, den Preis zu kassieren und findet am Ende sogar einen ebenso eleganten wie schönen Ausweg aus dem Dilemma der vorprogrammierten Enttäuschung. Das erste Kino-Drehbuch von Bob Nelson mag auf dem Papier nicht unbedingt originell sein, aber der fertige Film bekommt in seiner konsequenten Bedächtigkeit einen ganz eigenen unwiderstehlichen Rhythmus und mit dieser gewissen Langsamkeit geht eine besondere Aufmerksamkeit für Details einher. So ist „Nebraska“ reich an präzise eingefangenen Stimmungen, die eine halb versunkene Welt weit weg von den hektischen Metropolen wie New York und Los Angeles lebendig werden lassen.
Fazit: „Nebraska“ ist eine so amüsante wie kluge, eine so schmerzhafte wie ergreifende Tragikomödie aus dem amerikanischen Herzland. Regisseur Alexander Payne erzählt in archetypisch-monochromen Schwarz-Weiß-Bildern ganz ruhig und einfühlsam von der Wichtigkeit von Träumen.