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    Shame
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Shame
    Von Björn Becher

    2008 präsentierte der Video- und Fotokünstler Steve McQueen sein herausragendes Spielfilmdebüt „Hunger", die Geschichte des Aufsehen erregenden Hungerstreiks inhaftierter IRA-Terroristen. Prunkstück des Polit-Dramas ist ein in einer einzigen Einstellung gedrehter, zwanzig Minuten dauernder Diskurs zwischen dem von Michael Fassbender („Inglorious Basterds") gespielten Anführer der Häftlinge und einem Priester. McQueens zweiter Film „Shame" hat wieder einige starke Szenen, die sich auf eine Einstellung beschränken und Fassbender überzeugt erneut in der Hauptrolle. Doch während „Hunger" nicht nur Drama, sondern auch politischer Kommentar ist, hat McQueen über die gefühlslose New Yorker Yuppie-Welt rein gar nichts zu sagen und verzettelt sich in bedeutungsschwangeren Sex-Collagen.

    Brandon (Michael Fassbender) ist sexbesessen. Der erfolgreiche New Yorker Geschäftsmann onaniert morgens unter der Dusche, später noch einmal im Büro, gabelt One-Night-Stands auf, verkehrt mit Prostituierten, hat Privat- und Bürorechner voller Pornos und besitzt eine umfangreiche Sammlung an Sexheftchen. Als sich seine chaotische und mit einem Haufen psychischer Probleme belastete Schwester Sissy (Carey Mulligan) bei ihm einquartiert, wird sein bisheriges Leben allerdings über Gebühr eingeschränkt...

    Von der ersten Minute an wird Michael Fassbenders Brandon als Yuppie-Bruder von „American Psycho" Patrick Bateman (Christian Bale) präsentiert. Nackt läuft er in seinem kalten New Yorker Loft auf und ab; kein persönlicher Einrichtungsgegenstand ziert die weißen Wände oder die aufgeräumten Regale der karg eingerichteten Wohnung. Sex ist nahezu seine einzige Beschäftigung und die nimmt immer selbstzerstörerischere Ausmaße an. Mit Gefühlen verbunden darf sein zwanghafter Sex dabei nicht sein - als er für seine Arbeitskollegin Marianne (Nicole Beharie) mehr empfindet, bekommt er keinen hoch. Doch damit hat sich die Figur auch schon erschöpft. Ähnlich ist es mit Carey Mulligans Sissy, die sich nach Aufmerksamkeit von ihrer Umwelt sehnt, partout nicht alleine sein kann und ebenfalls einen selbstzerstörerischen Weg eingeschlagen hat. Die Figuren bleiben so fremd und unnahbar, dass ihr Schicksal kaum berührt.

    Steve McQueens Klasse als Regisseur ist deutlich zu erkennen. Sein Faible für lange Einstellungen in Schlüsselszenen zahlt sich nach „Hunger" einmal mehr aus. Eine seltene intime Dialogszene zwischen Bruder und Schwester lässt erahnen, was aus „Shame" hätte werden können; Ansätze eines Kommentars zur sexualisierten Gesellschaft sind zu erkennen. Aber schnell folgt darauf wieder eine jener unsäglichen Collagen, die die Protagonisten bei ihrem täglichen Treiben zeigt. Bedeutungsschwanger wird der Szenenton herausgenommen, werden die Bilder durch klassische Musik verstärkt, so dass sie ungeheuer überladen wirken. Um Brandons Selbstzerstörungstrip zu illustrieren, greift McQueen bisweilen tief in die Klischeekiste. Trauriger Höhepunkt ist eine Sequenz, in der Brandon sich erst in einer Bar kalkuliert verprügeln lässt, dann einen Blow-Job im Gay-Club einholt, nur um daran einen Dreier mit Prostituierten anzuschließen – während die ganze Zeit über die Spannung in der Luft hängt, dass sich Sissy etwas antun könnte.

    Mit vollem Körpereinsatz spielen Fassbender und sein Co-Star Carey Mulligan („An Education") ihre wenig greifbaren Figuren aus und schaffen es damit zumindest, dem Film eine rauhe Physis zu verleihen. In höchstem Maße nervig ist dagegen der von James Badge Dale („24", „The Pacific") gespielte Boss von Brandon, der seiner Ehe immer wieder mit Affären zu entkommen versucht. Dieser Sidekick ist deswegen so überflüssig, weil nicht einmal sein One-Night-Stand mit Sissy nennenswerte Auswirkungen auf die spärliche Entwicklung der beiden Protagonisten hat.

    Bei den 68. Filmfestspielen von Venedig 2011 war Michael Fassbender gleich mit zwei Filmen im Wettbewerb vertreten; Sex spielt beide Male eine zentrale Rolle. Wo David Cronenbergs „Eine dunkle Begierde" seltsam körperlos bleibt und sich der Altmeister nur für die Psyche interessiert, geht McQueen mit „Shame" den umgekehrten Weg. Sex und körperliche Entblößung sind dauerhaft zu sehen – und das war es auch schon. „Shame" ist eine Sequenz hipper Hochglanzbilder, über die kaum etwas erzählt wird. Bei einem Debüt-Regisseur müsste man aufgrund des inszenatorischen Könnens von vielversprechenden Ansätzen sprechen, bei Steve McQueen, der einen der bedeutsamsten politischen Filme der vergangenen Jahre gemacht hat, ist das allerdings eine glatte Enttäuschung.

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