Deutsche Genrefilme kennt der geneigte Filmfan eigentlich nur im Amateurbereich, wo Olaf Ittenbach und Kollegen mit ihrem Splatter-Trash wüten. Während sich im TV auch mal Regisseure wie Dominik Graf mit der Serie „Im Angesicht des Verbrechens" und Lars Becker mit seiner „Nachtschicht"-Reihe, sowie die ARD mit wenigen Einzelfolgen ihrer Erfolgsreihen „Tatort" oder „Polizeiruf 110" auch mal trauen, über den Tellerrand zu schauen, dabei aber immer „Krimi" bleiben müssen, besinnt man sich im Kino hierzulande meist auf historische Dramen und romantische Komödien. Wer kennt zum Beispiel einen deutschen Endzeitfilm? Ja, genau die rund 50.000 Zuschauer, die sich 2010 Lars Kraumes kommerzielle Enttäuschung „Die kommenden Tage" angeschaut haben. Nun gibt es den nächsten Versuch: „Hell" von Debütant Tim Fehlbaum. Gefördert von Kinoweltuntergangsexperte Roland Emmerich geht er einen anderen Weg als Kraume. Während „Die kommenden Tage" sich als düster-realistische Zukunftsvision präsentierte, ist „Hell" waschechtes Genre-Kino. Die Endzeit-Prämisse ist hier bloß der Rahmen für spannende Unterhaltung, bei deren Umsetzung Fehlbaum in der großartigen zweiten Hälfte sogar auf den Spuren von Wes Craven („Hügel der blutigen Augen") wandelt.
Das Jahr 2016. Das Klima auf der Erde hat sich verändert. Die Sonne brennt unaufhörlich auf Deutschland nieder. Wer sich nicht vermummt, muss mit schweren Verbrennungen bezahlen. Die Gesellschaft ist zusammengebrochen, Wasser ist knapp geworden. Die junge Marie (Hannah Herzsprung) fährt mit ihrem Freund Phillip (Lars Eidinger), mit dem sie mehr Zweckgemeinschaft denn Liebe verbindet, Richtung Berge, wo es ein moderateres Klima und vor allem Wasserquellen geben soll. Im Schlepptau: Maries kleine Schwester Leonie (Lisa Vicari). An einer verlassenen Tankstelle gabelt die Truppe den wenig vertrauenswürdigen Mechaniker Tom (Stipe Erceg) auf. Da er über Benzin verfügt und das Auto in Schuss halten kann, darf er mitreisen. Doch am Fuß der Berge angekommen geraten sie in einen Hinterhalt und Leonie wird entführt. Während Phillip auch ohne Fahrzeug, Vorräte und die kleine Gefährtin weiter will, möchte Marie ihre Schwester nicht zurücklassen – und lässt sich auf Toms riskanten Rettungsplan ein...
Dass Tim Fehlbaum ein Kino-Debütant ist, der bislang nur Kurzfilme inszeniert hat – die aber ziemlich eindrucksvoll -, ist seinem Endzeit-Horror-Drama nur zu Beginn anzumerken. Der Aufbau des Settings gerät ein wenig holprig, es dauert eine Weile bis Fehlbaum die nötige Atmosphäre geschaffen hat, um sein Publikum in seinen Bann zu ziehen. So vertraut der Regisseur im ersten Drittel zu wenig auf seine Bilder. Wenn Marie, Phillip und Leonie eine heruntergekommene und scheinbar verlassene Tankstelle untersuchen, sollte eigentlich der kurze Kameraschwenk über ein frisches Schlaflager genügen, um lauernde Gefahr anzudeuten. Stattdessen aber muss Marie die Existenz dieser Schlafstätte noch einmal gen Publikum verkünden.
Derartige Patzer bleiben jedoch rar, während Fehlbaum die Spannungskurve stetig weiter ansteigen lässt. Er hat Chuzpe genug, sein Szenario nicht tot zu erklären - die Prämisse des Zusammenbruchs der gesamten Gesellschaft durch den Temperaturanstieg in wenigen Jahren muss hier einfach akzeptiert werden. Mehr noch: Fehlbaum scheut sich nicht, unerwartet Genre und Tonart zu wechseln und dabei so richtig Vollgas zu geben. Eingeleitet von einem Auftritt der gewohnt grandiosen Angela Winkler („Die verlorene Ehre der Katharina Blum", „Die Blechtrommel"), eröffnet sich für Protagonistin Marie plötzlich eine neue Gefahr, die weitaus bedrohlicher als die sengende Sonne ist: der Mensch. Wenn der von Horror-Ikonen beeinflusste Filmfan Fehlbaum nun den Backwoods-Slasher aufs Korn nimmt, vermeidet er erfreulicherweise jedes Abgleiten ins Klischee; er spielt mit ihm.
Eine ganz besonders unangenehme Familie, mit der es Marie zu tun bekommt, handelt erschreckend nachvollziehbar: Die Familiengemeinschaft ist der letzte Ort der Zuflucht nach dem Zusammenbruch der bekannten Welt, gemeinsam werden neue, grausige Überlebensstrategien entwickelt. Wie es gute Genrestoffe von Wes Craven bis John Carpenter vorgemacht haben, bringt auch „Hell" Meta-Text mit. In den entscheidenden Momenten setzt Fehlbaum aber vor allem auf intensive Spannung. Hannah Herzsprungs Marie fungiert dabei als Identifikationsfigur, die – überzeugend verkörpert durch den „Vier Minuten"-Star – eine Wandelung von der stillen Mitläuferin zur Heroine durchmacht. Nach dem Versagen aller Männer liegt es an ihr, das Heft in die Hand zu nehmen und alles zu riskieren. Dass mit Angela Winklers Bäuerin auch die zweitstärkste Figur des Films weiblich ist, spricht für sich. Männer reißen hier zwar große Sprüche, sind jedoch schnell überfordert, wenn es hart auf hart kommt.
Nach seinem Abschluss an der Hochschule für Fernsehen und Film München wollte Fehlbaum unbedingt mit einem Genre-Stoff debütieren, an „Hell" hat er jahrelang gefeilt. Seine Ausdauer machte sich bezahlt, als erst Produzent und Co-Autor Thomas Wöbke („Nach Funf im Urwald", „Anatomie", „Lichter") auf ihn aufmerksam wurde und schließlich sogar Hollywood-Grande Roland Emmerich als namhafter Ratgeber an Bord der Produktion kam. Vor allem macht sich Fehlbaums Hartnäckigkeit aber für das deutsche Kinopublikum bezahlt – trotz Schwächen im Detail bietet „Hell" einen verdammt spannend inszenierten Genre-Stoff aus hiesiger Produktion. Nun muss das Publikum das Endzeit-Drama nur noch annehmen – dann dürften wir auch in Zukunft noch von Tim Fehlbaum hören.