Nicolas Winding Refn („Pusher“) ist an den Ort zurückgekehrt, wo er vom vielversprechenden Talent zum Regiestar aufgestiegen ist: Zwei Jahre nachdem er bei den Filmfestspielen in Cannes für sein Action-Drama-Meisterwerk „Drive“ mit dem Regiepreis prämiert wurde und seinen großen Durchbruch feierte, stellt sich der Däne mit dem umstrittenen „Only God Forgives“ erneut dem Wettbewerb an der Croisette. Und eines ist gewiss: Kein anderes Werk wird 2013 in Cannes so inbrünstig diskutiert wie das eigensinnig-brutale Crime-Drama – dieser in jeder Beziehung außergewöhnliche Film spaltet das Festivalpublikum auf extreme Weise. Eines muss dazu vorweg gesagt werden: Wer hier ein „neues Drive“ erhofft, wird radikal enttäuscht werden. „Only God Forgives“ ist völlig anders, Refn kümmert sich nicht um eventuell an ihn gestellte Erwartungen, er zertrümmert sie vielmehr regelrecht und liefert ein hyper-stylishes, ultra-brutales und von jedem inhaltlichen Ballast befreites Arthouse-Husarenstück ab, das am Ende nur knapp an der Selbstparodie vorbeischrammt. Faszinierend und abstoßend zugleich.
Der vor Jahren vor der Justiz in seinem Heimatland geflüchtete Amerikaner Julian (Ryan Gosling) ist in Bangkok Mitbetreiber eines Box-Clubs, der als Fassade für einen florierenden Drogenhandel dient. Als sein Bruder Billy (Tom Burke) in einem Hotelzimmer eine 16-jährige Prostituierte vergewaltigt und tötet, wird der selber zur Zielscheibe der Gewalt und zu Tode geprügelt. Julians und Billys hartgesottene Mutter Crystal (Kristin Scott Thomas), selber Kopf einer kriminellen Organisation, reist aus den Vereinigten Staaten an, um Blutrache für den Tod ihres Sohnes einzufordern. Doch Julian zögert. Erst als Chang (Vithaya Pansringarm), ein pensionierter Polizist, der die Unterwelt aufräumt, und für Billys Ableben verantwortlich ist, weiteren Ärger macht, überdenkt er seine Meinung.
Das Projekt „Only God Forgives“ wollte Nicolas Winding Refn eigentlich schon vor seinem vielbeachteten Triumph „Drive” realisieren, doch dann entschied er dafür, zunächst den kommerziell eher erfolgversprechenden Film zu drehen. Das hat sich bezahlt gemacht, denn Refns Reputation ist durch den Instant-Kult um „Drive“ kometenhaft gestiegen, was die kompromisslose Umsetzung von „Only God Forgives“ um einiges erleichtert haben dürfte. Seine mit dem Vorgänger neugewonnenen Fans stößt der Regisseur mit diesem anderthalbstündigen Rache-Inferno allerdings ordentlich vor den Kopf. Er knüpft an frühere Werke wie „Bronson“ und „Walhalla Rising“ an und setzt noch einen drauf: Mit „Only God Forgives“ taucht er in die schwül-fiebrige Atmosphäre der Unterwelt in der thailändischen Metropole Bangkok ein und inszeniert ein virtuos durchkomponiertes Blut-Ballett von bizarr-morbider Schönheit. Er verzichtet auf eine echte Story und macht dafür aus jeder einzelnen Einstellung ein visuell atemberaubendes kleines Kunstwerk mit betörendem Farbdesign, deren Wirkung er durch den (mal tatsächlichen, mal nur gefühlten) Einsatz von genießerischen Zeitlupen noch verstärkt.
Auf die Frage, warum ihr heißgeliebter Ekelpaket-Sohn Billy ein junges Mädchen brutal geschändet und umgebracht hat, raunt die Mutter Crystal nur knapp: „I am sure, he had his reasons!“. Die lapidar-verächtlich hingerotzte Replik bringt die moralische Verkommenheit der Welt von „Only God Forgives“ auf den Punkt. Hier herrscht politisch höchst unkorrekte Gefühlskälte, ein Innenleben gönnt Refn seinen Figuren nicht und entsprechend gibt es auch keine Sympathieträger. Hier kämpft nicht Gut gegen Böse - ersteres existiert in diesem Kosmos endloser Gewalt längst nicht mehr -, sondern jeder hat eben seine Gründe und so geht es Auge um Auge, Zahn um Zahn weiter ohne Aussicht auf einen Ausweg. Nach sachtem Start steigert der Regisseur die Brutalität zur Unerträglichkeit und die doppelte Rache-Geschichte bekommt Züge eines nihilistischen Höllentrips. Da werden dann Schwerter gewetzt und Leiber aufgeschlitzt, als gehöre dies zum guten Ton in der Unterwelt. Exemplarisch ist eine Szene, in der Chang ein Mitglied von Julians Clan (Byron Gibson) foltert. Er malträtiert zunächst Hände und Beine mit Stahlspießen, bevor er dem gefesselten Gegner Augen und Ohren aussticht. Diese Gewaltorgie ist nichts für zarte Gemüter und schon bei der Weltpremiere in Cannes hat sie so manchen Zuschauer zur Flucht aus dem Kinosaal motiviert.
Refn nimmt immer wieder Anleihen bei der griechischen Mythologie und Kristin Scott Thomas („Der englische Patient“) ist seine Furie: Sie geht komplett over the top, pöbelt wie die sprichwörtliche Kesselflickerin und macht aus ihren krachend-bösartigen Onelinern ein Ereignis – eine ebenso beängstigende wie charismatische Figur. Ryan Goslings Julian ist dagegen ein Weichei der Güteklasse A – vom obercoolen Driver trotz des auch hier immer bestens gestylten Äußeren keine Spur mehr. Der Kontrast zu „Drive“ ist also auch in dieser Hinsicht augenfällig, was aber eher dem Zufall geschuldet ist, denn die Rolle wurde ursprünglich für einen anderen Schauspieler geschrieben (die Indizien deuten auf Luke Evans). Erst als der absprang, übernahm Gosling und steht gegenüber der Kollegin Scott Thomas genauso zurück wie im Vergleich zum thailändischen Schauspieler Vithaya Pansringarm („Hangover 2“), der den Part des einheimischen Gegenspielers innehat. Er glänzt als Bangkoks Racheengel in Uniform mit düster-faszinierender Ausstrahlung. Eine psychologisch klar definierte Figur ist allerdings auch dieser Chang nicht, Stimmung und Aura sind für Refn wichtiger als ausgefeilte Charakterzeichnung. Gesprochen wird ohnehin kaum, die Personen, die zuweilen wie Untote umeinanderschlurfen, werden bestenfalls von einer mysteriösen Vergangenheit umweht. Refn behandelt die Akteure wie Schachfiguren, die er strategisch und bedächtig auf der Bühne seines Todesballetts verschiebt – ihrem unausweichlichen Schicksal entgegen.
Fazit: Nicolas Winding Refns visuell beeindruckendes Arthouse-Todesdrama „Only God Forgives“ ist ein archaischer, ultraharter und verstörender Schocker, der mit seinem Vorgänger „Drive“ wenig gemein hat. „Only God Forgives“ hat etwas von Katastrophen-Tourismus, man kann den Blick trotz des blutigen Desasters nicht abwenden.