Die 67. Filmfestspiele von Venedig waren ein Festival der Frauen. Der Großteil der Wettbewerbsbeiträge dreht sich um mal weniger, mal mehr starke weibliche Figuren. Um eine Fokussierung aufs Männliche zu finden, musste man schon auf Genrefilme wie Álex de la Iglesias chaotisch-brutale Anti-Franco-Satire „Balada triste de trompeta" oder Takashi Miikes großartige Wiederbelebung des Samurai-Genres „13 Assassins" ausweichen. Im Übrigen blieb eigentlich nur noch Vincent Gallo, der als Fixpunkt gleich zwei qualitativ sehr unterschiedliche Wettbewerbsfilme („Essential Killing", „Promises written in water") dominierte und dafür verdient als bester Darsteller ausgezeichnet wurde. Erst im allerletzten Wettbewerbsbeitrag gab es dann doch noch eine Männerfigur, die Gallo seinen Titel hätte streitig machen können. Paul Giamatti zieht in Richard J. Lewis' „Barney's Version", der eine Zeitspanne von annähernd 40 Jahren umfasst, alle schauspielerischen Register. Er mimt einen facettenreichen jüdischen Pessimisten, der mit seiner Impulsivität viel Schaden anrichtet, aber dem Publikum doch ans Herz wächst. Da ist sogar, auch wenn es für den Darstellerpreis in Venedig nicht ganz gereicht hat, Giamattis zweite Oscar-Nominierung (nach „Das Comeback") im Bereich des Möglichen.
Barney Panofsky (Paul Giamatti) ist erfolgreicher Produzent einer schwachsinnigen TV-Soap und ansonsten ein ziemlicher Miesepeter, der zu viel trinkt. Als ein Detective (Mark Addy), der ihm schon seit Jahren vergeblich einen Mord nachzuweisen versucht, ein Buch mit seiner Version des Kriminalfalls veröffentlicht, erinnert sich Barney zurück an seine bewegtes bisheriges Leben. Er denkt an die Zeit in Rom in den Siebzigern, als er und seine bester Kumpel Boogie (Scott Speedman) noch große Karrieren als Schriftsteller oder Maler anstrebten und er seine erste Frau Clara (Rachelle LeFevre) ehelichte. Er sinniert über seine Rückkehr nach Montreal samt Einstieg in die Soap-Produktion und die Trauung mit seiner aus reichem Hause stammenden zweiten Frau (Minnie Driver). Und er blickt auf seine große Liebe Miriam (Rosamund Pike) zurück, die er auf seiner zweiten Hochzeit kennen gelernt hat, und die zu seiner dritten Frau werden sollte. Außerdem ist da noch sein Vater Izzy (Dustin Hoffman), ein spleeniger Sidekick, auf den er sich immer verlassen konnte...
Die Adaption des Romans des 2001 gestorbenen kanadischen Schriftstellers Mordecai Richler schlägt einen deutlichen größeren Bogen als die meisten anderen Filme. Ausgehend von der Buchveröffentlichung entblättert sich eine Geschichte, die im Italien der Siebzigerjahre ihren Anfang nimmt, sich über die Achtziger und Neunziger in Kanada entblättert und schließlich sogar über den Ausgangspunkt des Films hinausreicht. Dabei setzen Drehbuchautor Michael Konyves und Regisseur Richard J. Lewis auf eine angenehm unaufgeregte Erzählweise. Scheint es zu Beginn, als würde alles auf jenes eine Ereignis zulaufen, wegen dem Barney seit mehr als einem Jahrzehnt unter Mordverdacht steht, ist dieses Geschehnis nur einer von vielen Dramaturgiehöhepunkten, die auf dem Weg mitgenommen werden. Da „Barney's Version" sich nach und nach mit verschiedensten Ereignissen aus Barneys Leben befasst, wird schwerelos zwischen Drama und Komödie gewechselt. Schicksalsschläge und glückliche Momente wechseln sich ab. Neben der gelungenen Erzählstruktur besticht „Barney's Version" auch durch zahlreiche humorvolle und intelligente Dialoge. Dieses gelungene Drehbuch ist umso verwunderlicher, da Autor Michael Konyves nach B-Movie-TV-Trash wie „Wenn der Mond auf die Erde stürzt" oder „Fire & Ice - The Dragon Chronicles" sicher nie im Verdacht stand, eine jegliche Klischees umschiffende Indie-Geschichte zu erzählen.
Der sympathische Film hat eine Menge Trümpfe im Ärmel. Obwohl Anti-Held Barney mit Seitensprüngen, Alkoholismus, Zynismus und Jähzorn alle Attribute eines Unsympathen vereint, wächst er dem Zuschauer schnell ans Herz und man fiebert mit, wenn er seiner großen Liebe Miriam den Hof macht, obwohl er gerade erst seine - den ganzen Film über namenlos bleibende - zweite Frau geheiratet hat. Das liegt sehr stark auch an Paul Giamatti, der seine Figur in Anlehnung an Woody Allens „Stadtneurotiker" interpretiert.
Richard J. Lewis, der sich bisher sich vor allem als langjähriger Produzent und Regisseur der Krimi-Serie „C.S.I." einen Namen gemacht hat, kann auch neben Giamatti auf ein eindrucksvolles Ensemble ohne Schwachstellen bauen. Dustin Hoffman spielt zwar nur eine Variation seiner Vaterrolle aus „Meine Frau, ihre Schwiegereltern und ich", aber der Auftritt ist - wenn auch deutlich kleiner - ähnlich grandios. Wenn er als komischer Sidekick immer mal wieder die Bildfläche betritt, um Fragen nach erlebtem Antisemitismus mit Geschichten über extensive Polizeigewalt zu beantworten, ist das zwar politisch nie korrekt, aber immer urkomisch. Und obwohl Giamatti das Zentrum des Films bildet, kommen auch die Frauenfiguren nicht zu kurz. Vor allem Rosamund Pike überzeugt als Liebesengel, dem selbst Zyniker Barney absolut verfällt. Zudem sind die bekanntesten kanadischen Regisseure der Gegenwart, Atom Egoyan („Das süße Jenseits") und David Cronenberg („A History of Violence"), in kurzen Cameos als Soap-Regisseure zu sehen.
Fazit: Mutet „Barney's Version" mit seiner eigentlich unnötigen Rückblendenstruktur zu Beginn noch an wie ein überflüssiger Streich aus dem Indie-Rezeptbuch, legen sich diese Befürchtungen dann doch recht schnell. Die mal romantische, mal dramatische und stets komische Geschichte von Anti-Held Barney verzaubert mit einem grandiosen Ensemble und dem von Songs der Band „The Directors" und Leonard Cohen dominierten Soundtrack, so dass die stattliche Laufzeit von 132 Minuten wie im Flug vergeht. Dank seiner intelligenten Dialogen ein unbedingtes Muss für Freunde anspruchsvoller, aber trotzdem unterhaltsamer Kost.