„Think big"! Diese griffige Formel stammt nicht etwa von den führenden Köpfen eines großen, nach Weltmarktherrschaft strebenden kalifornischen Computer- und Unterhaltungselektronikkonzerns, sondern dahinter steht eine Anfang der 80er Jahre im einst darbenden Neuseeland entwickelte Wirtschaftsstrategie: Dort errichtete man schließlich monströse industrielle Anlagen und verbesserte die Infrastruktur auf Weltniveau. Für das wahnwitzige Kinofilmprojekt „Cloud Atlas" gibt es keinen passenderen Slogan als dieses „Think big!". Was die Regisseure Tom Tykwer, Lana und Andy Wachowski mit der überaus ambitionierten Verfilmung von David Mitchells Weltbestseller „Der Wolkenatlas" gestemmt haben, ist Gigantismus in Form und Inhalt. Das Trio zeigt in seiner unabhängig finanzierten 100-Millionen-Dollar-Produktion, die zum größten Teil in Babelsberg entstand, dass der als unverfilmbar geltende, sich über 500 Jahre und mehrere Kontinente erstreckende Roman durchaus als Kino-Stoff geeignet ist. Es kippte hektoliterweise Herzblut in das Projekt, was in jeder Einstellung des Science-Fiction-Abenteuer-Thriller-Dramas zu sehen ist. „Cloud Atlas" hat eine Vielzahl von überragend inszenierten Einzelszenen und Momenten, die allerdings nicht alle zu einem homogenen Ganzen zusammenfinden. So ist „Cloud Atlas" ein beeindruckender filmischer Kraftakt mit einigen Macken, die ihm letztlich eine besondere Faszination verleihen.
In einer postapokalyptischen Zivilisation des Jahres 2346 erzählt ein greiser Ziegenhirte namens Zachry (Tom Hanks) am Lagerfeuer Geschichten von der früheren Welt. Diese beginnen 1849, als sich der Anwalt Adam Ewing (Jim Sturgess) auf einer Seereise mit der Unmenschlichkeit des Sklavenhandels konfrontiert sieht. Sein bewegendes Reisetagebuch fällt 1936 in die Hände des jungen Komponisten Robert Frobisher (Ben Whishaw), der in Cambrigde als Assistent des alternden Tonsetzers Vyvyan Ayers (Jim Broadbent) arbeitet. Ewings Aufzeichnungen inspirieren Frobisher zu seinem Meisterwerk, dem „Wolkenatlas-Sextett". Über die Arbeit an dem Stück und die schwierige Beziehung zu Ayers berichtet er in leidenschaftlichen Briefen an seinen Geliebten Rufus Sixsmith (James D‘Arcy). 1973 ist Sixsmith ein renommierter Nuklearexperte und hilft der Journalistin Luisa Rey (Halle Berry) bei der Aufdeckung eines Atomskandals. Die Skandalgeschichte wird 2012 zu einem Manuskript verarbeitet, das beim Londoner Verleger Timothy Cavendish (Jim Broadbent) landet. Der wird später gegen seinen Willen von der bösen Verwandtschaft in ein Seniorenheim gesperrt und die Verfilmung seines Ausbruchsversuchs inspiriert 2144 die geklonte Kellnerin Sonmi-451 (Doona Bae) im futuristischen Neo-Seoul zu eigenständigem Denken und dem Auslösen einer Revolution. Die ist in der kollabierten Welt von 2346 längst Geschichte, als die zeitreisende Forscherin Meronym (Halle Berry) und Zachry eine bahnbrechende Entdeckung machen...
Die Wachowski-Geschwister („Matrix", „Speed Racer") und Tom Tykwer („Das Parfum", „Lola rennt") haben die kühne Konstruktion des Romans in ihrem gemeinsamen Drehbuch sinnfällig adaptiert, auch wenn sie sie nicht hundertprozentig in den Griff bekommen. Sie lassen die sechs verschiedenen Geschichten, die allesamt motivisch miteinander verbunden sind, - anders als im Roman, wo sie in zwei Etappen fein säuberlich nacheinander erzählt werden - mit zunehmender Dauer der knapp dreistündigen Spielzeit in ständigem Wechsel immer enger zusammenlaufen. Durch die Entscheidung, den Hauptdarstellern episodenübergreifend Mehrfachrollen anzuvertrauen, betonen die Filmemacher die vielfältigen Zusammenhänge und Verästelungen zwischen den unterschiedlichen Handlungssträngen noch. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - alles hängt zusammen und ist untrennbar miteinander verknüpft. Menschen werden wiedergeboren und leben in anderen fort, sie treffen Entscheidungen, machen Fehler und revidieren diese Jahrhunderte später wieder. Der Weltentwurf von „Cloud Atlas" scheint grenzenlos, das Regie-Trio spannt einen beeindruckend weiten thematischen, zeitlichen und erzählerischen Bogen.
Nur selten versuchen sich Filmkünstler so offen wie hier an der vielzitierten Quadratur des Kreises, an der Verbindung der Vielfalt unterschiedlichster Genres und Stile zu einem homogenen Ganzen, zu einem komplexen Mammutwerk, das durch eine übergreifende Idee zusammengehalten wird. Dazu werden hier äußerst ungewöhnliche Wege beschritten, denn um die Fülle des Stoffes überhaupt bewältigen zu können, griffen die Filmemacher zu einem innovativen Kniff und drehten „Cloud Atlas" zeitgleich mit zwei Teams aus komplett voneinander getrennten Crews – lediglich die Schauspieler, die bis zu sechs unterschiedliche Rollen übernahmen, wurden „geteilt". „Team Tykwer" widmete sich mit seinem Stammkameramann Frank Griebe den Geschichten „1936", „1973" und „2012", während das „Team Wachowski" die Stränge „1849", „2144" und „2346" erzählt. Nur mit diesem produktionstechnischen Gewaltakt ließ sich das bisher mit Abstand teuerste deutsche Kino-Projekt aller Zeiten überhaupt realisieren, durch ihn konnte die Drehzeit gegenüber ersten Kalkulationen halbiert werden. Im Ergebnis hat das Vor- und Nachteile, Tykwer-Kenner und Wachowski-Experten werden auch ohne Vorab-Info erkennen, wer hier was gemacht hat. Durch die deutlich durchscheinenden individuellen Sensibilitäten und Eigenheiten wird der innere Zusammenhalt jedoch erschwert, zumal die sechs inhaltlich und inszenatorisch so unterschiedlichen Geschichten auch nicht in gleichem Maße gelungen sind.
Während die Einheit des Ganzen also immer wieder auf wackligen Füßen steht, sorgt die zum Prinzip erhobene Vielfalt für ein höchst abwechslungsreiches, immer faszinierendes Kinoerlebnis mit brillanten Momenten, besonders in den atmosphärisch herausragenden Episoden der Jahre 1936 und 1973, sowie gelegentlichen Fehlgriffen wie der in der Filmversion auf irritierende Weise an den unseligen Jar Jar Binks („Star Wars: Episode I - Die dunkle Bedrohung") erinnernde primitive Sprache aus der 2346er Handlung. Jede Einzelfolge gehört einem anderen Genre an, woraus sich ein vogelwildes Gemisch aus Abenteuer, Drama, Romantik, Komödie, Thriller und Science-Fiction ergibt. Bei der zusammenführenden Montage der Einzelstücke knarzt es des Öfteren im Gebälk der Filmkonstruktion: Dann trifft hemmungsloses Overacting (Jim Broadbent als Verleger) ungebremst auf fein nuanciertes Spiel (Ben Whishaw als romantisch-poetischer Feingeist und Lover), Komödiantisches (Tom Hanks als durchgeknallter Autor), Skurriles (Hugh Grant als „Atom-Elvis") und Ernsthaftes (Halle Berry als gejagte Journalistin). Bei dem ständigen Wechsel kann sich nicht jede Stimmung immer gebührend entfalten, andererseits werden gerade durch die Sprünge über Zeiten und Kontinente hinweg, die gemeinsamen Motive hervorgehoben und wenn die Hauptdarsteller immer wieder in neue Figuren schlüpfen, ihr Aussehen und zuweilen gar Geschlecht und Hautfarbe wechseln, dann wird die Idee der wandernden Seelen auf ebenso unterhaltsame wie überzeugende Weise anschaulich gemacht.
Wer sagt, die Filmemacher hätten sich hier zu viel vorgenommen, hat durchaus recht, denn für sich allein betrachtet wirken die einzelnen Episoden bisweilen banal und es wird auch nicht immer der richtige Ton getroffen (gerade der zuweilen dick aufgetragene Humor erscheint oft unangebracht). Aber auf der anderen Seite steckt gerade in der Maß- und Kompromisslosigkeit des wagemutigen Konzepts, in dem es ja darum geht, die Grenzen von Raum und Zeit zu überwinden, die besondere Stärke von „Cloud Atlas". Wer als Zuschauer die Einladung annimmt, übergreifenden Themen wie Macht, Wiedergeburt und vor allem Freiheit, die hier immer wieder als das höchste Ziel erscheint, nachzuspüren, für den entsteht im Gesamtzusammenhang durchaus eine gewisse Gedankentiefe und es kristallisiert sich eine optimistische und humanistische Grundhaltung heraus, die im sympathischen Gegensatz zum düster-pessimistischen Erzählgestus gewisser anderer Großproduktionen steht.
Fazit: „Cloud Atlas" ist ein berauschend-wilder, bizarrer Filmtrip in atemberaubend-visionären Bildern. Die ambitionierte Bestsellerverfilmung hat vor allem visuelle Stärken, denn den Filmemachern gelingt es nicht, das über Jahrhunderte ausgebreitete Geschichten-Geflecht erzählerisch zu bändigen. Bei allen Schwächen ist das wild wuchernde Werk jedoch immer faszinierend und überaus abwechslungsreich.