Ausgebrannt und völlig leer. So fühlt sich Schauspieler und Regisseur Mathieu Amalric 2002, als er gerade „La Chose publique" abgedreht hat. Seine Produzenten Laetitia Gonzalez und Yael Fogiel fragen den Franzosen: „Was nun, was kommt als nächstes?" Trotz dieses rührenden Interesses ziehen acht Jahre ins Land, bis Amalric, der zwischenzeitlich zu einem internationalen Star („München", „James Bond 007 - Ein Quantum Trost", „Schmetterling und Taucherglocke") aufgestiegen ist, seine neue Vision verwirklicht hat. Aber das Warten auf die Tragikomödie „Tournée", die den Wettbewerb der 63. Filmfestspiele von Cannes eröffnet, hat sich gelohnt: Amalric präsentiert ein berauschend inszeniertes, atmosphärisches Road Movie, in dem er in der Hauptrolle um sein Leben zu spielen scheint ist.
Seine Karriere und sein Leben in Frankreich waren am Ende: Schulden, Ärger an allen Fronten, Feinde an jeder Ecke. TV-Produzent Joachim Zand (Mathieu Amalric) hat schließlich Frau und Kinder verlassen, um in den USA einen Neuanfang zu schaffen. Und tatsächlich gelingt ihm mit seiner New-Burlesque-Show ein Achtungserfolg, der Zand von einer triumphalen Rückkehr in seine Heimat träumen lässt. Zunächst will der Impresario mit seinen Striptease-Tänzerinnen um den Star Mimi Le Meaux (Miranda Colclasure) die Hafenstädte Frankreichs abklappern, bevor Paris als Krönung ansteht. Doch es kommt anders: Ein Geschäftspartner linkt Zand und die Abschlussshows in der Hauptstadt platzen – er hat kein Theater für seine Damen. Verzweifelt versucht Zand eine Lösung zu finden, kriecht bei ehemaligen Feinden zu Kreuze, erträgt Demütigungen, schimpft, kratzt, beißt und holt sich eine blutige Nase. Zwischendurch muss er sich auch noch um seine kleinen Söhne Baptiste (Simon Roth) und Balthazar (Joseph Roth) kümmern, die er für einige Tage in Obhut hat. Die Aufgabe scheint Zands Kraft zu übersteigen. Er stemmt sich mit seinem Leben dagegen...
New Burlesque ist die Mitte der Neunzigerjahre in Mode gekommene Wiederbelebung einer ursprünglich aus der Lesbenbewegung hervorgegangenen Spielart des erotischen Tanzes. Inzwischen ist diese Variante des Striptease nicht zuletzt durch ihren größten Star Dita von Teese längst im Mainstream angekommen. Amalric nutzt dieses Milieu dazu, für ihn wichtige Motive zu etablieren: Präzise und liebevoll fängt er das Showleben auf Tour ein, das Tingeln von Stadt zu Stadt, das Mäandern durch die immer gleichen anonymen Hotels - die Illusion des Glamourösen ersetzt wirklichen Glanz. Die Hauptdarstellerinnen hat er allesamt aus der Burlesque-Szene rekrutiert, sie treten mit ihren tatsächlichen Shownamen auf und verleihen „Tournée" eine besondere Authentizität.
Und so beginnt der Film schon dokumentarisch: Amalric, der übrigens tatsächlich eine burleske Tournee durch Frankreichs Hafenstädte Le Havre, Rochefort und Nantes organsiert hat, um seine Darstellerinnen in die richtige Stimmung zu bringen, verzichtet auf die frontale Zuschauerperspektive. Christophe Beaucarnes Kamera begibt sich stattdessen hinter die Kulissen und folgt den Frauen auf Schritt und Tritt. Bereits in dieser frühen Phase nimmt „Tournée" rasende Fahrt auf und etabliert eine rauschhafte Atmosphäre – als hätte man Robert Altmans letzten Film „Last Radioshow" mit Buz Luhrmanns „Moulin Rouge" gekreuzt und eine Prise „Priscilla - Königin der Wüste" als Garnierung obendrauf gegeben. Getragen wird die dichte Inszenierung - in die Amalric alle Ideen, die er seit einer Dekade hatte, hineinpackt - von einem mitreißenden Rock-Soundtrack, der die Bühnenshow musikalisch illustriert, aber immer wieder auch die Gefühle der Protagonisten unterstreicht.
Die erste Hälfte des Films schildert im Detail die Abläufe in der Truppe und wie sich das soziale Gefüge auf Tour entwickelt. Manager Zand will die Strippen ziehen und den großen Macher geben, aber die Mädels verbitten sich jegliche Einmischung in ihre Show. Der wilde Haufen ist kaum im Zaum zu halten, doch der beharrliche Zand gibt nicht auf. Nach und nach vermischt sich der Dokustil mit dramatischen und komödiantischen Elementen. Die Stripperinnen werden jetzt nicht nur bei der Arbeit gezeigt, sondern in kleine Geschichten abseits der Bühne eingebunden und Joachim Zand rückt immer stärker in den Mittelpunkt, bis die Leinwand vor Mathieu Amalrics Präsenz zu bersten droht. Der französische Superstar steigert sich in einen Spielrausch und zeigt eine überragende Leistung als Getriebener am Rande des Nervenzusammenbruchs. Die hochinteressante Figur ist ungeheuer ambivalent: durchtrieben und destruktiv bis an die Schmerzgrenze, aber dennoch warmherzig und sympathisch. All das bringt Amalric in seiner umwerfenden Performance auf den Punkt – und krönt sie mit einem letzten grandiosen Tusch, der Ton, Stil und Thema des Films in einer Geste kulminieren lässt. Ausgebrannt und völlig leer!
Das klingt nach einer One-Man-Show des Mathieu Amalric, der in seiner vierten Regiearbeit zunächst überhaupt nicht selbst mitspielen wollte. Als er sich doch dafür entschied, war dem Regisseur Amalric klar, dass der Schauspieler Amalric nur glänzen kann, wenn das Umfeld stimmig ist. Und genau dafür sorgte er. Die Burlesque-Stripper-Truppe beeindruckt mit Natürlichkeit und ist immer dann am besten, wenn sie sich im Bühnenumfeld tummelt. Nur bei den Spielszenen gilt es kleinere Abstriche bei einigen der Amateurdarstellerinnen zu machen. Aus dem Ensemble sticht Miranda Colclasure alias Mimi Le Meaux heraus, die wunderbar mit Amalric harmoniert. Die beiden sind wie zwei Gegenpole, die sich anziehen und mit ihrem Kauderwelsch aus Englisch und Französisch eine besondere Vertrautheit zum Ausdruck bringen.
Fazit: „Tournée" ist ein Paukenschlag von einem Film, das Werk eines Regisseurs, der alles will: Mathieu Analric kombiniert bitteres Drama mit komödiantischen Momenten, das Road Movie ist durch den fantastischen Score praktisch schon ein Musikfilm und die dazu noch in die Story gemischten Anekdoten und Alltagsbeobachtungen drohen die Kapazität eines einzigen Films zu sprengen, was sich als einziger Makel ausmachen lässt. „Tournée" ist ein wilder, ein wahnsinniger, ein benebelnder Ritt.