Die hohe Kunst des Castings beschränkt sich keineswegs darauf, passende Gesichter für Drehbuch-Phantombilder aufzutreiben. Wirklich treffsichere Besetzungen verbinden Rolle und Darsteller-Image zu faszinierenden Chimären zwischen Realität und Fiktion. So hängt etwa die frenetische Rezeption des Aronofsky-Dramas The Wrestler wesentlich mit Mickey Rourkes mitreißender Interpretation seines eigenen Karrieretiefs zusammen. Den Casting-Vogel abgeschossen hat diese Tage allerdings ausgerechnet Regie-Dilettant und Internet-Legende Uwe Boll. Mit „Siegburg“, seiner Verfilmung eines schlagzeilenträchtigen Gefängnis-Mordes aus dem Jahr 2006, liefert er ein unfreiwilliges Porträt über Edward Furlongs (Terminator 2, American History X) Weg ins vorläufige Karriere-Aus ab. Bolls minutiöse Nachbildung eines schockierenden Mordfalls deutet jedoch nicht bloß an, welche perspektivlose Gestalt der aufgedunsene Ex-Kinderstar heute repräsentiert, sondern ist obendrein noch widerwärtig voyeuristisch inszeniert und bar jeder diskutablen Haltung zur erzählten Gräueltat.
Der zu sechs Monaten verurteilte Kleinkriminelle Mitch Palmer (Shaun Sipos) wird in eine Zelle mit drei ganz üblen Burschen gesteckt. Fortan vertreibt er sich die lange Zellenzeit beim Pokerturnier um streng rationierte Zigaretten. Mit seiner Idee, den Verlierer eine komplette Zahnpasta-Tube herunterwürgen zu lassen, befördert er sich jedoch flugs in die Opferposition. Dass er sich weigert, seine Wettschuld einzulösen, motiviert Mitinsasse Peter Thompson (Sam Levinson) zur ersten Gewalttat: Der schwächliche Kerl zwingt seine Beute, das herbeigeprügelte Ekel-Dinner mit einem noch fieseren Cocktail herunterzuspülen. Der in natürlicher Reaktion vollgekotzte Zellenboden wiederum aktiviert Brutalo Jack Ulrich (Steffen Mennekes), der die Peinigung mit einem Vergewaltigungs-Impuls weiter potenziert. Dann tritt der gnadenlose Harry Katish (Edward Furlong) auf den Plan und befeuert einen perversen Plan: Die Verschleierung der Folter via inszeniertem Selbstmord des längst schockstarren Knastgenossen...
Uwe Boll ist ein Meister des Verzichts. Zeichnet sich sein Genre-Oeuvre (Alone In The Dark, Schwerter des Königs) bereits durch eine regelmäßige Missachtung filmischer Basisregeln aus, expandiert der Deutsche seinen Minimalismus mit ausgesuchten Projekten inzwischen in wahrhaft atembraubende Dimensionen. Die Slasher-Gurke Seed kam ohne taugliche Beleuchtung aus und in seinem Vietnam-Machwerk Tunnel Rats ließ der Regisseur untalentierte Laiendarsteller an den Dialogen mitfeilen. Mit „Siegburg“ perfektioniert Boll sein waghalsiges Autorenfilmerkonzept und schlägt eine Inszenierung nach Drehbuch komplett in den Wind. Der Film setzt sich aus zwei quergeschnittenen Segmenten zusammen: den Ereignissen in der Zelle und nachträglichen Interview-Sequenzen, in denen die drei Fieslinge über ihre Tat plaudern. Vorgeblich zugunsten quasi-dokumentarischer Authentizität ließ Boll seine Darsteller improvisieren. Tatsächlich aber bezeugt die Abwesenheit eines Skripts vor allem eines - dass ihm rein gar nichts zu den Horrortaten vom 11. und 12. November 2006 eingefallen ist.
Die Ratlosigkeit des Nicht-Autors spiegelt sich in der Planlosigkeit der daherfabulierten Dia- und Monologfetzen. Von Figuren kann hier nicht die Rede sein. Bolls Darsteller impersonifizieren wenig mehr als simple Stichpunkte: Sam Levinson mimt den Reumütigen, Steffen Mennekes den brutalen Mitläufer und Edward Furlong schließlich den sadistischen Hofherren. Wer diese Menschen sind, die hier stellvertretend für den 2006er-Vorfall stehen sollen, bleibt im Dunkeln. An einer sinnstiftenden Auserzählung der exzessiven Gewalt stürmt Boll meilenweit vorbei. Die fadenscheinige Ergründung brutaler Gruppendynamik beschränkt sich in der zynischen Anthropologie Bolls auf die unreflektierte Behauptung, der Mensch sei nunmal eine Bestie - die sozialen Mechanismen und Strukturen hinter der Gewalt interessieren ihn nicht.
Was als Ansammlung loser Monolog-Fragmente für sich betrachtet funktioniert - vor allem in den Interview-Abschnitten Peters, der unter Tränen kundtut, bloß aus Angst vor seinen Zellenkameraden gehandelt zu haben - wird durch die präzise Nachstellung der Tat peinlich konterkariert. Einen wesentlich ergiebigeren Weg ging Romuald Karmakar 1995 mit einem spielfilmlangen Gespräch mit Götz George als Massenmörder Fritz Haarmann in dem Film „Der Totmacher“. Boll jedoch hat in Filmgeschichte aufgepasst und weiß, dass zur gründlichen Katharsis auch entsprechende Bilder gehören - immerhin gilt die Unerträglichkeit der 120 Tage von Sodom ja als Subtext-Tragfläche. Ausnahmsweise darf der deutschen Zensur hier für ihre Arbeit gedankt werden: Die abstoßendsten Gewaltporno-Sequenzen, etwa die ausführlich inszenierte anale Vergewaltigung Mitchs mit einem Besenstiel, fielen selbst in der „Keine Jugendfreigabe“-Fassung den Jugendschützern zum Opfer.
„Siegburg“ ist das konzeptlose Manifest eines verhohlenen Menschenfeindes. Das Martyrium von Mitchs realem Vorbild als Blaupause für einen gewaltgeilen Exzess zu missbrauchen, ist bereits hinreichend respektlos. Die amateurhaft via Handkamera gefilmte und willkürlich geschnittene Tortur dann aber noch als authentisch-psychologisches Kammerspiel auszustellen, bedingt einen neuen Tiefpunkt im an Totalausfällen reichen Schaffen Uwe Bolls - und lässt Edward Furlong endgültig havarieren. Dessen Darbietung ist zwar auch ob der geschilderten Tat abstoßend. Fast trauriger ist aber, den Jungen, der an der Seite James Camerons einst Kinogeschichte schrieb, als Erfüllungsgehilfen Boll'scher Fieberphantasien wiederzuerkennen. Bleibt nur zu hoffen, dass Furlong - anders als seiner Figur - irgendwann einmal die Gnade einer Resozialisierung zuteil wird - und dass Boll keinen Filmstoff im Keller des Josef F. aus Amstetten wittert, sondern möglichst bald zu seinen harmlosen Computerspiel-Verfilmungen zurückkehrt.