Deutsche Verleihpolitik, alberne Titelvergaben und schundige Synchronisierungen trieben in den Siebzigern beizeiten äußerst wilde Blüten. Dabei macht es immer noch einen Unterschied, ob Synchronlegende Rainer Brandt mittelgute Italo-Klopper aus dem Hause Spencer/Hill mit urigen Sprüchen versah und für ein deutsches Humorverständnis aufpolierte, oder ob der Sinngehalt eines Films komplett verfälscht wurde. Es mag harmlos sein, einen Western wie „Dio perdona... Io no!" („Gott vergibt - Ich nicht") in „Zwei vom Affen gebissen" umzutaufen und in der Synchro auf komisch zu trimmen. Wenn man hingegen einen ernsthaften und vieldeutigen Horrorfilm wie „¿Quién puede matar a un niño?" („Wer könnte ein Kind töten?") durch entstellende Schnitte seiner inhaltlichen Brisanz beraubt und durch den schwachsinnigen Verleihtitel „Tödliche Befehle aus dem All" lächerlich macht, dann ist das nicht mehr witzig, sondern ein Vergehen an einem zu Unrecht vergessenen Horror-Klassiker. Tödliche Befehle aus dem All gibt es hier keine und auch sonst ist Narciso Ibáñez Serradors Reißer von 1976 nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Unter dem viel sinnigeren Titel „Ein Kind zu töten..." ist das fabelhafte Kleinod vor einiger Zeit wieder auf Deutsch erschienen und es lohnt sich, Serradors zweiten und letzten Film neu zu entdecken. Leichte Kost sollte man jedoch nicht erwarten.
Der Urlaub von Evelyn (Prunella Ransome) und Tom (Lewis Fiander) könnte sonniger kaum anfangen. Gerade dem Reisebus entstiegen, geraten sie in die ausgelassene Feierstimmung des spanischen Küstenorts Benavis. Dann wird plötzlich die Leiche einer jungen Frau an den Strand gespült. Tom will die schwangere Evelyn zu einer Abtreibung überreden. Und in allen Fernsehern und Radios wird von Kriegen berichtet, die die Welt im Würgegriff halten. Am nächsten Tag nimmt das Paar ein Boot zur kleinen Insel Almanzora, um endlich Ruhe zu finden. Schnell merken die beiden, dass abgesehen von ein paar Kindern keine Menschen auf der Insel zu sein scheinen. Nachdem man in der Lobby des örtlichen Hotels aufgeschlagen ist, mehren sich die Anzeichen, dass hier etwas entschieden im Argen liegt. Die Kinder haben sich zu einer sektenartigen Gemeinschaft zusammengeschlossen und der gesamten Erwachsenenwelt den Krieg erklärt. Brächten Evelyn und Tom es fertig, „ein Kind zu töten..."?
Die wichtigste der zahlreichen Qualitäten dieses wunderbaren Klassikers ist das erzählerische Geschick, mit dem Serrador böse Andeutungen darüber macht, in welche Richtung sich das Geschehen später entwickeln wird. Auch beim wiederholten Sehen erstaunt, wie gekonnt er Spuren in Richtung Albtraum legt und mit welch unheiliger Ruhe er die Protagonisten in die Höhle des Löwen lockt. Schon ein dokumentarisch daherkommender Prolog, der die großen humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts umreißt und bei seinen Beispielen (Auschwitz, Biafra, Korea...) stets die Kinder als Leidtragende in den Mittelpunkt rückt, lässt Böses ahnen. Die erste halbe Stunde über passiert nicht viel, abgesehen von der Vorstellung des Paares, das von Prunella Ransome und Lewis Fiander lebensnah und sympathisch skizziert wird – dann wird es kompliziert.
Dass Spanien über eine Horror-Tradition verfügt, ist hierzulande kaum noch geläufig. Zu jener Zeit hatte man dort mit Paul Naschy aber sogar einen echten Genre-Star, der bis heute für stimmungsvoll-trashige Okkult-Reißer steht. Oft beschränkte sich der Horror made in Spain auf eskapistische Gruselepen wie „Die Bestie aus dem Totenreich" oder „Blutmesse für den Teufel". Das übernatürliche Böse hatte hier stets einen satanischen Hintergrund samt blutig-barockem Hokuspokus. Erst nach dem Tod des Diktators Franco kam es zu künstlerischen Befreiungsschlägen; nun widmeten sich die Filmemacher mit aller gegebenen Drastik dem Schrecken des Diesseits. Das wilde Kino eines Pedro Almodóvar, das in den Folgejahren die cinephilen Augen der Welt auf sich zog, kann in vielerlei Hinsicht als künstlerische Aufarbeitung Jahrzehntelanger Repression begriffen werden.
Auch „Ein Kind zu töten..." ist hochpolitisch, dabei jedoch auch so abstrakt, dass keine mögliche Deutung klar letztgültig wäre. Fakt ist: Hier gibt es eine aggressive Dringlichkeit, eine bitterböse Geschichte bitterböse zu erzählen. Mehrmals scheint Serradors Film wie eine Abrechnung mit den geplatzten Idealismen der 68er-Generation. Tom und Evelyn mögen aufgeschlossene Endzwanziger sein, als sie jedoch in einem Fernseher Bilder aus Thailand sehen, wo zu jener Zeit (1976) wieder einmal ein Militärputsch wütete, seufzen sie einmal entrüstet und vergessen das Leid der Welt schnell wieder, um ihren Urlaub fortzusetzen. Die Kinder, die hier den Platz der Unterdrückten einnehmen, werden mit schierer Gewalt und ohne akademische Abgeklärtheit den Umsturz herbeiführen und dabei vor keiner Institution, keiner Ordnung und auch vor Tom und Evelyn keinen Halt machen.
Die Gewalt der Kinder wirkt nahezu verspielt. Ihren Opfern begegnen sie stets mit einem Lächeln – und nie ist es ein durchtriebenes Lächeln, lediglich ein naives. Sie kennen kein richtig und falsch, so hat selbst der größte Gewaltakt noch einen erschreckend unschuldigen Anklang. In einer Schlüsselszene hängen eine Handvoll Kinder einen gerade erschlagenen Greis kopfüber an einem Seil auf, um dann wie bei einer Piñata mit Sensen auf ihn einzuschlagen. Als eine Meute eine junge Frau ermordet, zeigt sich, dass die Mordlust hier auch ein Zeichen von kindlicher Neugier ist. Während die Mädchen im Kleid der Toten posieren, inspizieren die Jungs nicht ohne Scham den weiblichen Körper. Mit solchen Bösewichtern verkommt das gemeine Horrormärchen nie zu einem spekulativen Schlachtfest, obwohl es durchaus – besonders für die damalige Zeit – einige sehr brutale Spitzen gibt. Die ungeheure Härte entspringt viel mehr der bloßen Idee und der Konsequenz, mit der diese vor allem gen Ende umgesetzt wird.
Ob man dieses Ende, das hier nicht vorweg genommen werden soll, nun als grimmige Pointe eines funktionellen Schockers oder als revolutionäre Kampfansage der dritten an die erste Welt begreift – kalt lässt es niemanden. Mit seinem enormen erzählerischen Selbstbewusstsein ist Serrador nicht auf grelle Effekte angewiesen, um sein Publikum zu fesseln. Am ehesten erinnert das an Roman Polanski, der in seinen frühen Filmen ebenso eine große Faszination für das Böse auslebte und ebenfalls wusste, dass sich die größte Wirkung immer noch mit kleinen Einblicken in ein unvorstellbar grausames Ganzes erzielen lässt. Die erlesene Kameraarbeit von José Luis Alcaine kann in diesem Sinne nicht genug gewürdigt werden. Die Detailversessenheit, mit der Alcaine die verlassene Insel einfängt und sein Sinn für die Erkundung der Räumlichkeiten begeistern auch heute noch. „Ein Kind zu töten..." ist einer jener Filme, denen man ihr Alter zwar ansieht, die jedoch kein bisschen Staub angesetzt haben.
Fazit: Serradors Klassiker „Ein Kind zu töten..." ist eine packende Filmerfahrung von formaler Brillanz und bedrohlicher Intensität, die noch in Jahrzehnten erschüttern und begeistern wird.