Kann man noch über einen Mel-Gibson-Film sprechen, ohne die skandalträchtigen privaten Ausfälle des australischen Ex-Superstars mitzudenken? Die Zeiten, in denen Gibson mit Filmen wie „Maverick" oder „Was Frauen wollen" als sympathischer Hallodri galt und seine Weste so weiß war, dass er sogar Disney-Filme wie „Pocahontas" synchronisieren durfte, sind definitiv vorbei. Schon mit seiner zweiten Regiearbeit „Braveheart" zeichnete sich ab, dass Mad Mel es gern etwas düsterer hat. Etwa so wie im umstrittenen Bibel-Splatter „Die Passion Christi" oder im Maya-Schocker „Apocalypto". Begleitet wurden diese hitzig debattierten Filme von einer Boulevard-Schlagzeile nach der anderen: Betrunkenes Autofahren, antisemitische und rassistische Pöbelattacken, häusliche Gewalt gegen seine Ex-Freundin, Telefonterror, cholerische Schreianfälle - heute, im Jahr 2012, ist Gibson zur Persona non grata geworden, die von Studiochefs, Agenturen und Verleihern gemieden wird wie das Weihwasser vom Teufel. Seiner Produktivität tut dies keinen Abbruch. Nach „Auftrag Rache" und „Der Biber" folgt mit „Get The Gringo" der dritte Gibson-Film nach seiner Verbannung aus dem Garten Hollywood. Adrian Grunbergs ist mit dem bereits 2010 gedrehten Werk dabei ein starker Crime-Reißer gelungen.
Driver (Mel Gibson) ist auf der Flucht. Nach einem misslungenen Coup durchbricht er, ein kleines Heer US-Cops hinter sich, den Grenzzaun gen Mexiko. Dort jedoch wird er von korrupten einheimischen Bundespolizisten nicht nur um seine Diebesbeute gebracht, sondern auch in ein Gefängnis verfrachtet. Gitterstäbe sucht man hier vergebens, vielmehr ist der Knast ein kleines Dorf, das von Mauern umzingelt und von korrupten Wärtern bewacht wird – eines, in dem die Familien der Insassen ein und aus gehen, krumme Dinger abgezogen werden und die lokalen Bosse mit eiserner Faust regieren. Doch der Driver weiß sich zu behaupten und freundet sich mit einem Jungen (Kevin Hernandez) und dessen attraktiver Mutter (Dolores Heredia) an. Als die Organmafia, die mit dem Knastpaten Javi (Daniel Gimenez-Cacho) kooperiert, es auf die Leber seines Stiefsohns in spe abgesehen hat und des Drivers alte Mafiosi-Bosse (u.a. Peter Stormare) aufkreuzen, brennt endgültig die Luft. Mit List, Tücke und im Zweifelsfall Gewalt spielt Driver die Parteien gegeneinander aus, bis nur noch einer steht...
„Get the Gringo"-Regisseur Adrian Grunberg hat bisher vor allem als Regie-Assistent bei zahlreichen Filmen mit Südamerika-Thematik gearbeitet, bei „Apocalypto" traf er dann auf Mel Gibson. Der Star, der hier auch federführend produzierte und am Drehbuch mitarbeitete, ernannte ihn kurzerhand zum Spielleiter. Doch wer bei „Get the Gringo" das Sagen hatte, kann man sich an zwei Fingern abzählen: Der Film ist eine turbulente Achterbahnfahrt auf dem Highway to Mel. Und wer sich im bisherigen Schaffen des in Internetzirkeln inzwischen durchaus liebevoll „Melraiser" genannten Filmemachers und Schauspielers auskennt, wird sofort die üblichen Insignien eines typischen Gibson-Vehikels wiederfinden. Schon früh hatten ausgedehnte Foltereskapaden in seinen Filmen Hochkonjunktur: die Schläge und Tritte in „Mad Max", die Elektroschocks in „Lethal Weapon" oder der Hammer auf die Zehen in „Payback" – Gibson ist längst ein regelrechter Schmerzensmann. Und so muss auch der namenlose Fahrer gleich nach seiner Inhaftierung ordentlich Prügel beziehen, die er – so scheint es – fast schon mit einem Lächeln über sich ergehen lässt. So ist er eben, der toughe Gibson-Archetyp. Mehrmals erinnert das an Brian Helgelands Donald-Westlake-Verfilmung „Payback", mit dem Unterschied, dass die Schraube in Sachen Härte hier noch einige Windungen weiter gedreht wurde.
Die Erlösermythen der großen Gibson-Regiearbeiten gehen dem „Gringo" allerdings ab. Grunbergs Spektakel steht mehr in der Tradition fetziger Action-Thriller mit Bodenhaftung. Wer einen düsteren Schocker erwartet, liegt falsch: Der Ton ist unerwartet heiter. Gibson mag eine cholerische Skandalnudel vor dem Herrn sein – vor der Kamera aber funktioniert sein urig-kaputter Charme nach wie vor wunderbar und es gelingt ihm schnell, Sympathien für den schlagfertigen Antihelden aufzubauen. Zwischen den Exzessen ist dieser Gringo ein verschmitzter Held mit großem Herzen und dem Schalk im Nacken. Obgleich auch unter mexikanischer Sonne jede Menge Blut vergossen wird, bleibt „Get the Gringo" durchweg rabenschwarz humorvoll. Wenn gleich zu Beginn ein angeschossener Gangster mit Clownsmaske in Zeitlupe Blut spuckt, ist klar, dass die Gags in diesem Werk immer auf die schmerzhaften Kosten von anderen gehen werden.
Wenn Gibson auf dem Rücksitz eines mexikanischen Polizeiautos mit Ohrfeigen traktiert wird und er kurzerhand einen gerade verstorbenen Partner als Schutzschild vor den Schellen benutzt, schüttelt man entweder entsetzt den Kopf – oder sich selbst vor Lachen. Was man auch vom derben Humor halten mag: „Get the Gringo" funktioniert, was nicht nur auf Charmebolzen Gibson, sondern auch auf das hohe Tempo, die enorme Kurzweil von angenehm schlanken 90 Minuten und das präzise Timing zurückzuführen ist, mit dem nicht nur der schräge Humor, sondern auch die ultraharte Action inszeniert wird. An den Digitallook, mit dem schon in „Apocalypto" experimentiert wurde und in dem auch das mexikanische Knast-Rambazamba gehalten ist, dürfte man sich dabei schnell gewöhnen, zumal er auch unverkennbare Vorzüge besitzt.
Schließlich hat hier nicht irgendjemand die Bildgestaltung übernommen, sondern das französische Kamera-Wunderkind Benoît Debie, das bereits die Horrortrips von Gaspar Noé („Irreversibel", „Enter The Void") und Fabrice Du Welz („Calvaire", „Vinyan") eingefangen hat. Debie schafft ein spürbares Raumgefühl für die Gefängnisstadt mit ihren engen Katakomben und belebten Märkten, auch seine Action-Darstellung bleibt durchweg übersichtlich. „Get the Gringo" gefällt mit sonnendurchflutet-erdigem Look, der an die guten alten Zeiten des harten, dreckigen Action-Kinos erinnert, ohne „retro" zu sein. Während andere vergebens versuchen, den räudigen Charme vergangener Zeiten einzufangen, ist „Get the Gringo" ein Werk, das den Klassikern des Genres tatsächlich das Wasser reichen kann: Sam Peckinpah („Getaway") und Charles Bronson („Das Gesetz bin ich") schauen voller Stolz auf diesen Gringo herab.
Fazit: „Get the Gringo" hat das Potential, zum Kultfilm zu werden. Nachdem mit der mexikanischen Grenze auch sehr früh die Barrieren des guten Geschmacks durchbrochen werden, stehen alle Zeichen auf Sturm. Der Film ist maßlos brutal, politisch sagenhaft unkorrekt und schamlos unterhaltsam. Ein echter Mel Gibson eben!