Es war gar nicht verkehrt, dass die Premieren von „Wall Street: Geld schläft nicht" und „Unter dir die Stadt" bei den Filmfestspielen von Cannes nur einen Tag auseinander lagen. So bietet sich ein Vergleich nicht nur an, er drängt sich geradezu auf. Wo Oliver Stones Blockbuster mit ausgelutschten Kalenderweisheiten gegen die Verursacher der Finanzkrise wettert (womit er offene Türen einrennt, was aber eher langweilt), hat die Krise in Christoph Hochhäuslers Liebesdrama lediglich einen unterschwelligen Einfluss, der dank seiner Subtilität aber eine umso stärkere atmosphärische Wirkung entfaltet. Nachdem Michael Hanekes „Das Weiße Band" im vergangenen Jahr die Goldene Palme gewinnen konnte, wird Deutschland mit dem in der Reihe „Un Certain Regard" gezeigten „Unter dir die Stadt" an der Croisette also auch 2010 mehr als würdig vertreten.
Oliver (Mark Waschke) und Svenja Steve (nicht weniger als eine Offenbarung: Nicolette Krebitz) sind gerade erst aus Hamburg nach Frankfurt gezogen. Oliver hat hier eine gutdotierte Stelle bei einer bedeutenden Bank angenommen. Bei einer Kunstausstellung im Firmengebäude trifft Svenja auf den deutlich älteren Roland (großartig: Robert Hunger-Bühler), der gerade zum Banker des Jahres gekürt wurde und einen Platz im Vorstand innehat. Es werden nur wenige Worte gesprochen, trotzdem funkt es zwischen den beiden. Ein zweites Treffen endet bereits im Hotelzimmer, doch Svenja will sich ihrem Verlangen noch nicht hingeben. Als ein Nachfolger für einen in Indonesien entführten und zerstückelten Kollegen gesucht wird, schlägt Roland deshalb Oliver als Kandidaten vor, um sich seinen Konkurrenten für eine Zeitlang vom Hals zu halten...
Die Geschichte vom einflussreichen Macher, der einen in der gesellschaftlichen Hierarchie unter ihm Angesiedelten aus dem Weg schafft, um an dessen Frau heranzukommen, ist nicht neu. So hat etwa Tim Burton in „Sweeney Todd" eine bekannte Variante dieser Konstellation vorgelegt. Aber in der Form, in der sie Christoph Hochhäusler nun seinem Publikum präsentiert, ist sie dennoch durch und durch originär. Jeder Versuch, „Unter dir die Stadt" auf seine Handlung oder auf seine Thematik zu reduzieren, ist nämlich bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt. Statt dem Zuschauer die Deutung des Geschehens dick aufs Brot zu schmieren oder ihn mit einer brav aufgedröselten Moral von der Geschicht‘ zu entlassen, liefert der Film etliche Anregungen, sich selber Gedanken zu machen.
Ein gutes Beispiel für Hochhäuslers Erzählweise ist gleich die erste Szene: Auf der Straße entdeckt Svenja eine Frau, die das gleiche Kleid trägt wie sie. Nachdem sie ihr eine Zeitlang hinterhergegangen ist, verfolgt Svenja die Frau bis in eine Bäckerei, wo sie das gleiche Gebäck bestellt. Was er daraus macht, bleibt dem Zuschauer überlassen: Vielleicht amüsiert Svenja die Situation einfach? Oder sie hofft, mit der Unbekannten ins Gespräch zu kommen, schließlich ist sie gerade erst nach Frankfurt gezogen und kennt hier noch niemanden? Oder sie kennt die Frau doch und hat sich in voller Absicht das gleiche Kleid angezogen? Die Situation wird bis zum Ende nicht aufgelöst, das Gleiche gilt für viele der folgenden Szenen. Trotzdem wirkt diese Offenheit niemals beliebig. Man fühlt sich nicht veräppelt, sondern herausgefordert. Auch einen Tag später gehen einem viele Szenen noch nicht aus dem Kopf, weil man immer weiter über mögliche Deutungen nachgrübelt.
Ein weiteres offengelassenes Detail ist der Fetisch, den Roland mit Hilfe seines Chauffeurs auslebt. Dieser schafft seinem Chef immer wieder Junkies heran, die sich vor Rolands Augen einen Schuss setzen, ihm dabei aber auf keinen Fall in die Augen blicken dürfen. Eine Ersatzdroge für jemanden, der sich die Drogen eigentlich lieber selbst spritzen würde? Oder lebt Roland hier durch jemand anderen seine selbstzerstörerischen Tendenzen aus, die umzusetzen er selbst sich nicht traut? Oder ist er ganz klassisch bloß ein Perverser mit einem Machtkomplex, der sich am Leid des Pöbels ergötzt? Auch hier gibt es keine klare Antwort. Aber die Situation ist derart intensiv, dass man sich auf sie und die Möglichkeiten, die sie offenbart, einfach einlassen muss.
Diese ungewöhnliche Offenheit bezieht sich aber keinesfalls nur auf einzelne Details, sondern auch auf die Kernthemen des Films. Zum einen ist da die Affäre zwischen Roland und Svenja, wobei es schon schwerfällt, sich überhaupt auf den Begriff „Affäre" festzulegen. Denn was genau ist es eigentlich, das da zwischen den beiden stattfindet: Ein flüchtiges Techtelmechtel? Ein gefährliches Spiel? Eine ausgewachsene Affäre? Oder gar existenzielle Liebe? Ganz ähnlich verhält es sich mit der Kritik am Finanzsystem. Natürlich zeigt Hochhäusler Dinge, die das Publikum nur verachtenswert finden kann, und dass Roland seinen Widersacher einfach nach Indonesien abschiebt, ist ganz klar ein Machtmissbrauch. Doch am Ende gilt es, Roland als romantischen Helden der Geschichte zu akzeptieren. Auch hier besteht die Qualität des Films darin, dem Zuschauer in jeder Einstellung so viel Anregendes und Aufregendes an die Hand zu geben, dass er gerne dazu bereit ist, sich selbst einen Reim darauf zu machen.
Die Inszenierung Hochhäuslers („Milchwald", „Falscher Bekenner") ist gewohnt präzise. Jede Einstellung ist ein Augenschmaus, vor allem die Interieurs der Bank werden extrem elegant in Szene gesetzt. Und bei der visuellen Einbindung der Frankfurter Skyline zeigen sich sogar geradezu essayistische Qualitäten, was leise Erinnerungen an Hochhäuslers „Deutschland 09"-Beitrag „Séance" heraufbeschwört und Oliver Stones „stürzende Kamera" entlang einer Wolkenkratzerfassade als Symbol für den Börsencrash im Nachhinein noch ein wenig platter erscheinen lässt.
Fazit: Auch 2010 wird Deutschland würdig in Cannes vertreten. Christoph Hochhäuslers „Unter dir die Stadt" vermengt Bankenkrise und Liebesdrama zu einem grandiosen atmosphärischen Meisterwerk und überlässt die Deutungshoheit wie viele der größten Künstler vollkommen seinem Publikum.