Nach dem herausragenden Amoklaufdrama „Polytechnique“ und dem nicht minder sehenswerten, oscarnominierten Familiendrama „Die Frau, die singt“ ist Hollywood auf den kanadischen Filmemacher Denis Villeneuve aufmerksam geworden. Bei seinem US-Debüt nutzte der Regisseur nun die Möglichkeiten der Traumfabrik und realisierte mit einer beeindruckenden Starbesetzung vor der Kamera und einigen der besten Spezialisten dahinter den Entführungsthriller „Prisoners“. Gleichzeitig lässt er sich aber keineswegs von Hollywood vereinnahmen und bleibt seiner etablierten anspruchsvollen Erzählweise absolut treu. Villeneuve wirft in den durchaus gelegentlich sperrigen 153 Minuten seines Films schwierige moralische Fragen vor allem zum Thema Selbstjustiz auf, deren Beantwortung er indes jedem einzelnen Zuschauer überlässt. Damit ist „Prisoners“ eine herausfordernde, vor allem aber zu jeder Sekunde ungemein spannende Seherfahrung. Kurz gesagt: einer der Höhepunkte des Kinojahrs 2013.
Die Ehepaare Keller (Hugh Jackman) und Grace Dover (Maria Bello) und Franklin (Terrence Howard) und Nancy Birch (Viola Davis) feiern gemeinsam mit den Kindern in ihrer verregneten und verschneiten Kleinstadt in Pennsylvania Thanksgiving. Doch der feucht-fröhliche Abend ist schlagartig vorbei, als die kleinen Mädchen der Familien, Anna Dover (Erin Gerasimovich) und Joy Birch (Kyla Drew Simmons), die zum Spielen draußen waren, mit einem Mal spurlos verschwunden sind. Wie rasend sucht Keller die Nachbarschaft ab, doch die einzige Spur ist die Beobachtung seines Sohns Ralph (Dylan Minnette), dass die Mädchen am Nachmittag an einem verlotterten Wohnmobil gespielt haben. Die Polizei findet diesen Wagen bald, am Steuer sitzt der geistig zurückgebliebene Alex Jones (Paul Dano), den Detective Loki (Jake Gyllenhaal) nach einem Fluchtversuch sogleich für den Täter hält. Aber es gibt keinerlei weitere Hinweise auf eine Verbindung des Verdächtigen zum Verschwinden der Mädchen. Nach 48 Stunden muss Loki Alex laufen lassen, womit sich Keller nicht zufriedengeben will. Er ist fest von der Schuld des Jungen überzeugt und nimmt die Sache schließlich selbst in die Hand. Er entführt Alex und foltert ihn, um so den Aufenthaltsort der Mädchen aus ihm herauszupressen…
„Prisoners“ ist ein sprechender Titel, der auf nahezu alle Figuren in Denis Villeneuves Film passt. Die Mädchen sind, sofern sie noch leben, Gefangene, auch Alex Jones ist in der Hand des verzweifelten Vaters Keller Dover ganz wörtlich ein Gefangener. Doch selbst Detective Loki, der von den bürokratischen Vorschriften seines Jobs eingeengt wird, ist nicht frei und vor allem ist Keller Dover selbst in seiner zunehmenden Besessenheit ein Gefangener. Er ist mehr als hundertprozentig überzeugt, dass Alex Jones seine Tochter entführt hat, selbst als Loki einen neuen Verdächtigen hat, auf den immer mehr Indizien hindeuten, kann und darf es für ihn keinen Zweifel geben. Das Trauma der Entführung und das unterschwellige Gefühl der Ohnmacht trüben Kellers Wahrnehmung und so wird ein vermeintliches Geständnis, das ihm Alex nach seiner Entlassung aus dem Polizeigewahrsam zugeraunt hat, das aber niemand sonst hören konnte, für ihn zum unumstößlichen Fakt und eine „Batman“-Version des Weihnachtsklassikers „Jingle Bells“ zum hieb- und stichfesten Beweis. Hugh Jackman („Wolverine“, „Les Misérables“) scheut nicht vor Extremen zurück und so bricht in seinem Porträt hinter der mehr als verständlichen Sorge um das Kind immer stärker der blanke Rachedurst hervor.
Anders als in vielen Hollywood-Rachephantasien wird in „Prisoners“ kein fiktionaler Freibrief zur Selbstjustiz erteilt und das moralische Dilemma wird nicht aufgelöst. Vielmehr konfrontieren uns Denis Villeneuve und Hugh Jackman mit düsteren Konsequenzen der unerträglichen Situation. Meist ohne die Folter direkt zu zeigen, vermittelt der Regisseur geschickt die Grausamkeit und die Brutalität von Kellers „Verhören“. Dafür genügen der Kamerablick auf die eingesetzten Instrumente und einige Andeutungen zunächst völlig, ehe er uns später den malträtierten Alex zeigt und uns eine grausige Ahnung von dessen Qualen gibt. Wenn Keller dann seinen Zimmermannshammer in Richtung der Hand seines Gefangenen niedersausen lässt, zuckt man im Kinosessel zusammen, auch wenn er schließlich nur ein Waschbecken wenige Zentimeter daneben zertrümmert: Die Folterbilder entstehen im Kopf des Betrachters.
Während Keller durchaus fragwürdig das Heft in die eigene Hand nimmt, zeigt Villeneuve über die drei anderen betroffenen Elternteile, ganz andere Möglichkeiten auf, mit der Entführungssituation und der „Folterlösung“ umzugehen: Kellers Frau Grace (Maria Bello) liegt nichtsahnend vom Treiben ihres Mannes nur noch depressiv und weinend im Bett. Sein Freund Franklin wird von ihm zu Beginn mit in Alex‘ Kidnapping hineingezogen, doch ihn plagt bald das schlechte Gewissen und er vertraut sich seiner Frau Nancy (Viola Davis) an. Die wiederum will mit der Folter persönlich nichts zu tun haben, hat aber die Hoffnung, dass Kellers radikaler Weg ihr Kind zurückbringt. Daher ist für sie klar: Wir helfen ihm nicht, aber wir stoppen ihn auch nicht und vergessen alles, was wir darüber wissen. Diese unterschiedlichen Positionen werden hier allerdings nicht erzählerisch herausgearbeitet, sondern in wenigen Szenen recht schematisch einander gegenübergestellt. Dem Figuren-Trio mag es etwas an individuellem Profil fehlen, aber die drängende Frage „Was würde ich tun?“ setzt sich dennoch in ihrer ganzen Unauflösbarkeit in den Gedanken des Zuschauers fest.
Eine besondere Rolle bei dem vertrackten Drama kommt dem von Jake Gyllenhaal („Brokeback Mountain“, „Donnie Darko“) verkörperten Detective Loki zu. Der undurchsichtige Einzelgänger sieht mit seinen Tattoos am Hals und auf den Händen, dem gegelten Haar und dem bis zum Kehlkopf zugeknöpften hellblauen Hemd ganz und gar nicht aus wie man sich landläufig einen Cop vorstellt. Er ist nicht nur ein Gefangener der engstirnigen Polizeivorschriften, sondern auch ein Gestrandeter, der überhaupt nicht in diese Kleinstadtwelt passt. So ist er, der Vertreter von Gesetz und Ordnung, nur ein Außenseiter. Während Keller Dover von Anfang an zum Berserker wird, findet bei Loki ein schleichender Prozess statt. Je mehr Zeit nach dem Verschwinden der Mädchen verstreicht und je aussichtsloser die Lage scheint, desto verzweifelter wird er. Dabei sorgt Jake Gyllenhaal als grüblerischer Loner für die schauspielerischen Höhepunkte des Films und entfernt sich dabei weiter von seinem Nice-Guy-Image als kaum jemals zuvor in seiner Karriere. Mit Fortschritt der vielschichtigen Handlung verschiebt Villeneuve den Fokus immer mehr auf seine, sich aufopfernde, unnachgiebig nach der Wahrheit suchende Figur, die bei ihren Ermittlungen Grausames zu Tage fördert.
Das kleine, in den ersten atmosphärischen Einstellungen so beschaulich anmutende Örtchen erweist sich bald als wahrer Hort des Schreckens wie man es sonst nur aus den Romanen eines Donald Ray Pollock („Das Handwerk des Teufels“) kennt. Ein Priester (Len Cariou, „Blue Bloods“) hat Leichen im Keller, ein ähnlicher Entführungsfall, der fast zwanzig Jahre zurückliegt, spielt genauso eine Rolle wie ein unheimlicher Verwirrter (David Dastmalchian), der in die Häuser der Opferfamilien einbricht. Und selbst Alex Jones‘ alte Tante Holly (gespielt von der kaum wiederzuerkennenden Oscarpreisträgerin Melissa Leo) wirkt irgendwie unheimlich – schließlich hat man längst das Gefühl, dass in dieser Stadt hinter jedem Antlitz ein Monster lauert. Der brillante Kameramann Roger Deakins („True Grit“, „James Bond – Skyfall“) kreiert dazu an dem verregneten Schauplatz eine fast schon unwirkliche Atmosphäre und setzt immer wieder visuelle Ausrufezeichen, die ihm eine weitere Oscar-Nominierung einbringen dürften: Wenn Detective Loki mit durch eine Verletzung und einen massiven Regenguss doppelt eingeschränktem Sichtfeld im Finale über glatte Straßen und dicht befahrene Autobahnen rast, ist dies eine der allerbesten Gaspedal-Szenen der Filmgeschichte. Dazu tragen natürlich auch die sonst eigentlich nur für Clint Eastwood arbeitenden Cutter Joel Cox und Gary Roach einen entscheidenden Teil bei.
Was zu Beginn wie eine brutale Rachegeschichte anmutet, wandelt sich im späteren Verlauf phasenweise zu einem kühlen Detektiv-Thriller im Stil von David Finchers „Zodiac“. Da werden dann mysteriöse Puzzle-Teile (wie etwa ein mehrfach vorkommendes Labyrinth-Muster) in kriminalistischer Kleinarbeit zusammengesetzt, um der Auflösung des durchaus verworrenen Falles näher zu kommen. Aber „Prisoners“ ist nicht nur einer der spannendsten Film des Kinojahres, sondern wie bereits Villeneuves voriger Film „Die Frau, die singt“ ein starkes Melodram. Wenn etwa Hugh Jackman am Ende zu einer bestürzenden Einsicht kommt, dann ist nicht nur ein Moment von seltener Intensität, sondern dadurch fällt auch ein ganz neues Licht auf große Teile des vorigen Geschehens. Hier zeigt sich einmal mehr, wie perfekt das bereits seit 2009 heiß in Hollywood gehandelte Drehbuch von Aaron Guzikowski („Contraband“), konstruiert ist. Jede Szene, jedes Detail hat einen genauen Platz im großen erzählerischen Entwurf und trotzdem werden am Ende nicht alle Fragen beantwortet: So finden Ideen- und Gefühlskino auf nachdrückliche und nachdenklich stimmende Weise zusammen.
Fazit: Denis Villeneuve liefert mit „Prisoners“ einen der spannendsten und interessantesten Film des Jahres ab: herausragend!