„Im Namen Gottes" - das sind die Worte, mit denen Asghar Farhadis vierter Spielfilm „Elly..." beginnt. „Im Namen Gottes" leitet jeden Spielfilm im Iran ein. „Im Namen Gottes" werden in diesem Land auch Ehebrecher hingerichtet. Nun ist das Kino vielleicht noch mehr als andere Kunstrichtungen immer auch ein Seismograph der Gesellschaft und es sind Tatsachen wie die der Ehebrecher, die im Westen das Bild eines Landes bestimmen, das die meisten nur aus den Nachrichten kennen. Ein Bild, das unweigerlich auch die Herangehensweise an ein Drama wie „Elly..." bestimmt. Doch Farhadi, der 2009 für seine Regie den Silbernen Bären der Berlinale in Empfang nehmen durfte, gelingt es, ein Porträt der Menschen im Iran zu zeichnen, das vor allem durch seine ungewohnte Offenheit überrascht.
Ahmad (Shahab Hosseini) kehrt nach Jahren in seine iranische Heimat zurück. Er will Urlaub machen und Abstand gewinnen zu seiner gescheiterten Ehe in Deutschland. Mit seinen Freunden aus Teheraner Uni-Tagen - Amir (Mani Haghighi), Manouchehr (Ahmad Mehranfare), Peyman (Peyman Moadi) und ihren Familien - bricht Ahmad zu einem dreitägigen Kurzurlaub ans Kaspische Meer auf. Begleitet werden sie auch von Elly (Taraneh Alidousti). Amirs Frau, die lebenslustige Sepideh (Golshifteh Farahani), hat die hübsche Kindergarten-Erzieherin ihrer Tochter eingeladen, um sie Ahmad vorzustellen. Unter andauernden Witzen und Andeutungen der Anderen versandet jedoch jeder von Ahmads Annäherungsversuchen. Als die Zwanzigjährige am nächsten Tag bereits den Bus zurück nach Teheran nehmen will, wird sie von Sepideh zum Bleiben überredet. Während die anderen Frauen zum Einkaufen aufbrechen und die Männer sich beim Volleyballspielen amüsieren, bietet Elly an, zurück zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern. Doch plötzlich treibt Peymans Sohn Arasch leblos im Wasser und Elly ist spurlos verschwunden...
„Elly..." öffnet mit einer Tunnelsicht: Frauen und Kinder schreien bei voller Fahrt durch das Verkehrsnadelöhr um die Wette. Regisseur Farhadi ist von der ersten Minute an stets nah dran ist an seinen Figuren, ob sie weinen, lachen oder kreischen. Der Zuschauer erkennt, dass die Protagonisten - gebildet, gut situiert und westlich gekleidet - irgendwie so gar nicht ins übliche Iran-Bild der westlichen Welt passen wollen. Die Klarheit, mit der hier gängige Geschlechterrollen über den Haufen geworfen werden, überrascht zusätzlich. Die Partner scheinen zumindest zwischenmenschlich gleichberechtigt. Das sind keine Parteigänger eines entarteten Unrechtsstaates, allenfalls die locker sitzenden Kopftücher der Frauen erinnern das Publikum daran, dass diese Menschen noch nicht vollends in der westlich-säkularen Welt angekommen sind. In bernsteingesättigten Bildern ergeht sich Farhadi auch in der simplen Schönheit des Landes, der schroffen Küsten und der fülligen Wälder.
Den Wendepunkt stellt der Bade-Zwischenfall dar, in dessen Verlauf Elly spurlos verschwindet. Die Freunde beginnen eine rastlose Suche, nicht wissend, ob die junge Frau bei dem Versuch, Arasch zu retten, selber den Fluten zum Opfer gefallen ist oder ob sie sich auf eigene Faust auf den Heimweg gemacht hat. Die Gruppe beginnt, die Gespräche des Vorabends durchzugehen, um zu verstehen, was Elly zu ihrer Flucht veranlasst haben könnte. Diese in fahlen Grautönen gehaltenen Szenen nehmen fast die gesamte zweite Hälfte der 119 Minuten Spielzeit ein, und sie offenbaren allmählich den Zwiespalt von Moderne und Tradition, in dem sich die Beteiligten befinden. Kammerspielartig werden sachte Vorgehensweisen hinterfragt, gleichzeitig konzentriert sich „Elly..." an diesen Stellen darauf, die Spannung um den Verbleib der Titelfigur aufrecht zu erhalten. Als nach und nach immer mehr Details über Ellys Lebenswandel und Sepidehs Rolle dabei ans Licht kommen, gerät der Vorfall zum Lackmustest für das Selbstverständnis der Gruppe.
Offenheit ist der Leitgedanke, der Asghar Farhadi bei seiner Arbeit umtreibt. Statt als Konglomerat vorgefasster Positionen möchte der Spätdreißiger sein Werk als Projektionsfläche für widerstreitende Gedanken verstanden wissen. Vom hehren Anspruch, das Publikum von bloßen Konsumenten zu gedanklich Beteiligten zu machen, ist „Elly..." dann allerdings doch noch ein ganzes Stück entfernt. Zu simpel ist die Geschichte über ein paar Lebenslügen einer Zwanzigjährigen. Zudem wird sich der Zuschauer schlussendlich unweigerlich fragen, wer und was hier eigentlich Gegenstand der Kritik ist. Ist es das Verhalten von Männern, die im Ausnahmefall moralische und tatsächliche Schuld auf (ihre) Frauen abladen? Oder ist es die sittliche Verantwortungslosigkeit des „fortschrittlichen" Mittelstands der Islamischen Republik? Sich auf die betonte Offenheit der Machart Farhadis, der anders als zum Beispiel Mohsen Makhmalbaf („Der Tag, an dem ich zur Frau wurde") eben kein ausgesprochener Oppositioneller ist, rauszureden, um eine Lesart zu umgehen, wäre auf jeden Fall zu simpel und bequem.
Fazit: „Elly..." ist ein spannendes Drama mit überzeugenden Schauspielerleistungen. Besonders Golshifteh Farahani („Der Mann, der niemals lebte") empfiehlt sich für Höheres. Auch ohne allzu viel subversiven Duktus handelt es sich um ein relevantes Werk, eben um ein Porträt des „anderen" Irans.